Viele Karateka haben schon auf Lehrgängen von Fritz Nöpel, Martin Nienhaus und anderen von den Tieren in den Kampfkünsten gehört. Der legendäre indische Mönche Bodhidarma (jap.: Daruma) soll Anfang des 6. Jahrhunderts u.a. den Shaolin-Kampfstil und auch die fünf Tierstile (chin.: Wuquan) Drache, Schlange, Leopard, Tiger und Kranich entwickelt haben.
Diese finden sich auch in den Kata der verschiedenen Karatestile wieder; teilweise stellen sie auch deren Embleme dar: Im Yuishinkan-Goju-Ryu ist das der Drachen mit seinen eher kurzen runden, im Shotokan der Tiger mit seinen eher langen geraden Bewegungen.
Im Folgenden werden die Charakteristika der fünf Tiere der Kampfkünste vorgestellt und anschließend mit dem Spiel der fünf Tiere des Qigong verglichen.
Drache
Der Drache (chin.: Long) ist dem Himmel zugeordnet und damit auch das höchste Tier. Er verfügt über die meisten Waffen, kann schlagen, treten, beißen, mit dem Schwanz schlagen, laufen, schwimmen, fliegen und sogar Feuer spucken. Der Drache ist fester Bestandteil der chinesischen Kultur; er war Symbol des Kaisers und ist auch heute noch z.B. beim Drachentanz oder Drachenbootrennen zu finden.
Schlange
Die Schlange (chin.: She) ist die kleine Schwester des Drachens, verfügt aber nicht über seine Kraft und sein Waffenarsenal. Dafür ist sie als Würge- oder Giftschlange schnell und wendig, kann Griffe zum Hals und andere Körperteile ansetzen sowie blitzschnelle Fingerstiche (Nukite) und Fußstiche (Tsumasaki) zu empfindlichen Körperteilen wie Augen, Hals, Unterleib und Innenschenkel ausführen. Schlangen sind ein wichtiges Motiv in der chinesischen Mythologie.
Leopard
Der (Schnee-)Leopard (chin.: Xuebao) ist der kleine Bruder des Tigers. Er ist schwächer, aber schneller als der Tiger und verfügt über eine große Sprungkraft. Da er keine große Durchschlagskraft hat, greift er nicht frontal an, sondern sucht Lücken in der Verteidigung des Gegners und schlägt dann blitzschnell mit einer Serie von Techniken zu.
Tiger
Der Tiger (chin.: Hu) ist der Erde zugeordnet; er verfügt über Mut und Kraft. Mit großer Wildheit greift er seinen Gegner und seine Beute frontal an. Mit seinen Krallen und Zähnen kann er feste zugreifen und die Beute reißen. Aufgrund seiner Stärke werden leider auch heute noch allen Körperteilen heilende und kräftigende Wirkungen zugeschrieben, so dass sich durch Wilderei horrende Summen auf dem Schwarzmarkt erzielen lassen.
Kranich
Der Kranich (chin.: He) ist uns aus vielen Kata bekannt. Mit den Flügeln kann er schlagen, mit den Beinen treten und mit dem Schnabel (Kranichkopffaust) wirkungsvolle Hiebe austeilen. Wir kennen auch seine geflügelte Verwandtschaft: z.B. den Adler mit Washide und den Specht mit Nukite in der Gojushiho sowie die Schwalbe, der im Shotokan eine ganze Kata (Empi) gewidmet ist.
Boddidharma: Fünf Tiere mit Kampfkraft
Durch die Beobachtung der gesamten Tierwelt wurden im Laufe der Jahrtausende effektive Kampftechniken entwickelt. Aufgrund ihrer Kampfkraft wählte der legendäre Bodhidarma fünf Tiere aus. Die Fünf ist eine Glückszahl und spielt eine wichtige Rolle in der chinesischen Kosmologie und Philosophie. Es gibt z.B. fünf Himmelsrichtungen (Norden, Süden, Osten, Westen und die Mitte), fünf Wandlungsphasen (Feuer, Erde, Metall, Wasser und Holz) und fünf Segenswünsche (Reichtum, Wohlstand, Glück, Glückseligkeit und Langlebigkeit).
Hua Tuo: Das Spiel der fünf Tiere
Der Wunsch, lange zu leben, ist in allen Kulturen bekannt. Schon um 2600 v. Chr. soll Huangdi, der legendäre „Gelbe Kaiser“, alle Erkenntnisse zur Gesunderhaltung, Krankheit und Heilung in einem Buch zusammengetragen haben, das als Quelle der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gilt. Schon damals und auch heute fordert die TCM: Vorbeugen ist besser als Heilen! Hua Tuo († 220), ein berühmter chinesischer Arzt zur Zeit der Östlichen Han-Dynastie, war einer der Ersten, der körperliche Übungen als Heilmethode vorschlug. Durch die Beobachtung der Ganzkörperbewegungen von Kranich, Tiger, Bär, Affe und Hirsch schuf er das Bewegungssystem „Spiel der fünf Tiere“ (chin.: Wu Qin Xi), wobei mal als Übende:r nicht zum Tier werden, sondern dieses imitieren soll. Die Übungen sollen locker, entspannt, rund und ruhig sein, die Atmung soll von einer natürlichen in eine tiefe und ruhige Bauchatmung übergehen. Alle Übungen beginnen und enden in einer entspannten Grundhaltung.
Kranich: ruhig & gelassen
Der Kranich ist Symbol für Ruhe und Gelassenheit; er ist kühn, langlebig und weise. Seine Übungen dienen hauptsächlich der Zirkulation von Blut und Qi.
Tiger: kräftig & geschmeidig
Der Tiger ist nicht nur kraftvoll, sondern auch geschmeidig. Seine Augen leuchten, wenn er die Beute im Visier hat, und die Kraft ist in den Pranken. Innen Yin und außen Yang. Die Übungen sind für die Beweglichkeit in Wirbelsäule, Taille und Hüfte.
Bär: Unbezwingbar
Der Bär (chin.: Xiong) gilt als unbezwingbar. Massig gebaut, ist er nicht schnell, aber voller innerer Kraft. Innen Yang und außen Yin. Im Karate finden wir die Bärenhand (jap.: Kumade) in vielen Kata. Die Übungen des „Spiels“ sind gut für Oberbauch, Leber und Milz sowie für die Muskulatur im Hüftbereich.
Affe: intelligent & gewandt
Der Affe (chin.: Hou) ist aufmerksam, intelligent und gewandt. Er kann gut klettern und springen, auf zwei Beinen laufen, mit seinen Klauen greifen und Früchte pflücken. Beim Üben soll man die leichten und schnellen Bewegungen, die für Augen, Hals und die Durchblutung des Gehirns gut sind, nachahmen. Doch auch als Kämpfer ist der Affe nicht zu verachten. Im Affenstil (chin.: Houquan) des Wushu werden Sprünge, Salti und Ausweichbewegungen aus teilweise tiefen Stellungen heraus geübt, was die Flexibilität und Dynamik des ganzen Körpers fördert. Und gerne wird mit den Händen in Weichteile gegriffen und rotierend gepflückt! Auch im Karate finden wir das Greifen (jap.: Tsukame) in zahlreichen Kata.
Hirsch: wachsam & schnell
Der Hirsch (chin.: Lu) ist ein Fluchttier. Er kann lange wachsam stillstehen, um sich dann plötzlich auch aus der Drehung heraus schnell zu bewegen. Die sanften öffnenden Übungen fördern die Brust-, Schulter- und Rückenmuskulatur. Zwar gilt der Hirsch als gutartig, doch kann er sich mit Tritten und seinem Gehörn effektiv zur Wehr setzen. In Ermangelung von metallenen Waffen wurden im alten China auch Geweihe zum Kämpfen genutzt. In der Inneren Kampfkunst Baguazhang gibt es ein Waffenpaar, das wegen seiner Form als Mandarinenten oder auch Geweihmesser bezeichnet wird. Seine Handhabung ähnelt u.a. dem Yama-Uke und Yama-Tsuki des Karate. Vielleicht stand bei einigen Techniken in den Kata Jitte und Bassai Dai nicht der Berg (jap.: Yama), sondern der Hirsch mit seinem Geweih Pate!
Wer mehr zum „Spiel der fünf Tiere“ (Wu Qin Xi) erfahren möchte, kann dies im Internet tun, wo sich verschiedene Bewegungsmuster finden lassen, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben. Gemeinsam ist aber allen, dass sie der Gesunderhaltung dienen.
Text und Fotos: Dieter Kießwetter
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