„Dieter, Dieter, bei euch steht ein Chinese im Garten!“, waren die aufgeregten Worte meines Nachbarn Hans, als er frühmorgens Sturm schellte. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm erklärte, dass der Mann „mein Kung-Fu-Lehrer“ bei seiner morgendlichen Meditation sei. Es wäre zu langwierig gewesen, ihm klarzumachen, dass Chen Jumin im Zhanzhuang stand, der grundlegenden Übung des Yiquan, des „Geist-Boxens“, wie es wörtlich übersetzt heißt. „Yi“ bedeutet aber nicht intellektueller Geist oder Kampfgeist, sondern Vorstellungskraft und Konzentration.
Yiquan (gesprochen: I-tschüän) ist eine Form des Qigong, ein effizientes System der Gesundheitspflege und eine Innere Kampfkunst (siehe Teil 1 und Teil 2). Entwickelt wurde Yiquan in den 1920er Jahren von Wang Xiangzhai (1885-1963), der die Grundprinzipien von Taijiquan, Baguazhang und Xingyiquan zu einem System zusammenfasste und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Dabei löste er sich von äußeren Formen (Xing) und festgelegten Bewegungsfolgen (Taolu, jap.: Kata) und beschränkte sich auf das Wesentliche.
Die Übungen des Yiquan kann man im Liegen, Sitzen, Stehen und Fortbewegen ausführen, sie lassen sich sogar in den Alltag integrieren. Sie sind sanft und fließend, fördern die Körperwahrnehmung und entwickeln die innere Kraft, stellen aber auch mentale Anforderungen. Wegen der positiven Wirkungen auf Kampfkunst und Gesundheit wurde das System vom chinesischen Gesundheitsministerium zu einer der fünf führenden Qigong-Schulen erklärt.
Wang Xiangzhai hatte viele Schüler; nach der Besetzung der Mandschurei durch Japan (1931) gehörte auch der japanische Oberst Sawai Kenichi (1903-1988, 5. Dan Judo, 4. Dan Kendo und Iaido) ab 1939 dazu. Als dieser 1947 nach Japan zurückkehrte und Yiquan unterrichten wollte, war er gezwungen, den chinesischen Begriff durch den japanischen Taiki Seiseikenpo, kurz Taikiken (Boxen der großen Energie), zu ersetzen. Eng arbeitete Sawai mit dem Begründer des Kyokushinkai-Karate, Oyama Masutatsu, und dessen Schülern zusammen und beeinflusste deren Karate-Stil. Einer seiner ersten westlichen Schüler wurde der niederländische Karateka Jan Kallenbach (Europameister 1974), der heute Hauptvertreter des Taikiken in Europa ist.
Führender Vertreter für Yiquan ist Chen Jumin, ein Experte der Inneren Kampfkünste, Autor mehrerer Bücher zu Qigong und Yiquan sowie Leiter zahlreicher Seminare und Ausbildungen. Da er fließend Englisch und Deutsch spricht, kann er auch Hintergründe sowie komplexe Zusammenhänge und Ausführungen verständlich erklären; in seinem Unterricht sind Fragen durch Teilnehmende erwünscht. Zu seinem täglichen Übungspensum gehören ein bis zwei Stunden Zhanzhuang.
Stehen wie ein Pfahl
Das „Stehen wie ein Pfahl“ wird in vielen Stilen des Qigong und der Kampfkünste geübt. Wahrgenommen wird es von außen als regungsloses Stehen, doch ist es auch eine Form der Meditation, mit der man im Yiquan mittels Gedankenarbeit die innere Kraft (Hunyuan) trainiert. Man kann Zhanzhuang auch mit „Stehen wie ein Baum“ übersetzen: Die Praktizierenden wachsen mit der täglichen Übung von einem Sprössling hin zu einem großen Baum mit festen Wurzeln, starkem Stamm und kräftigen Ästen. Wenn ich mit Jumin Partnerübungen mache, ist das so, als versuchte ich vergeblich, einen stabilen Baum zu bewegen. Oftmals wird mein Krafteinsatz spontan reflektiert, und ich lande auf dem Hosenboden.
Selbst ausprobieren: Werde zum Baum
Damit es nicht bei der Theorie bleibt, seid ihr jetzt aufgefordert, mitzuüben beim Zhanzhuang! Ihr braucht keinen besonderen Trainingsraum und keine spezielle Trainingsbekleidung; wenn der Boden kalt ist, solltet ihr flache Schuhe oder Pantoffeln anziehen. Nehmt euch ein paar Minuten Zeit und folgt meinen Anweisungen: Wir stellen uns schulterbreit hin, die Zehenspitzen zeigen nach vorne oder leicht nach außen, das Gewicht ist gleichmäßig auf beide Füße verteilt, die Knie sind ein wenig gebeugt. Dadurch dass die Knie leicht gebeugt sind, können wir auch Bauch, Becken, Leisten und Gesäß sanft entspannen, Belastungen an die Beine übergeben und in die Erde ableiten. Die sich verändernden Druckverhältnisse spürt ihr an den Fußsohlen. Das Kinn ist leicht Richtung Brust gezogen, Mund und Gesicht sind entspannt. Der Kopf ist aufgerichtet, als wenn sein höchster Punkt an einem Marionettenfaden hinge. Durch diese Vorstellung wird auch die Wirbelsäule sanft gestreckt ohne große Kraftanwendung. Die Schultern sind entspannt, die Achselhöhlen sind ein wenig geöffnet, und die Arme hängen locker herab. Die Atmung erfolgt ruhig und lautlos, sie wird nicht willentlich gesteuert. Jetzt stellen wir uns vor, wir stünden fest auf beiden Füßen bis zum Brustbein in warmem Wasser mit dem Rücken zum Ufer. Wir spüren seinen Auftrieb, der uns fast schweben lässt, und das Spiel der Wellen. Der Blick geht zum Horizont, wir fixieren aber keinen Punkt. (Man kann auch die Augen locker schließen.) Wenn in der Vorstellung eine leichte Dünung von vorne kommt, spüren wir den Druck auf der Vorderseite (Rumpf, Arme, Beine); wir entspannen, senken unseren Schwerpunkt und halten in der Vorstellung dagegen, um nicht umzufallen. Kommt die Dünung vom Ufer zurück, so spüren wir den Druck auf der Rückseite und stemmen uns gedanklich dagegen. Wir halten die Balance, während uns das Wasser umspielt; wir bleiben entspannt, denn alles findet nur in unserer Vorstellung statt. Es ist nicht schlimm, wenn wir uns anfangs mit der Dünung bewegen; irgendwann werden wir die Bewegungen verinnerlichen. Aber aufgepasst: Falls ihr dabei seekrank werdet, solltet ihr entspannt aus der Übung aussteigen! Üben solltet ihr am Anfang nur mehrere Minuten, dafür aber mehrmals am Tag, bis ihr nach einigen Monaten 20 Minuten oder mehr schafft.
Selbst ausprobieren: Tragen – Umarmen
Ihr könnt zwischendurch auch in eine andere Position wechseln, z. B. zu Tuobao Zhuang: Tragen – Umarmen. Wie bei der vorherigen Übung stehen wir wieder bis zum Brustbein in warmem Wasser, die Hände befinden sich vor dem Unterbauch, die Handflächen zeigen Richtung Nabel, die Fingerspitzen zueinander. Die Arme sind gerundet, die Ellenbogen leicht nach außen geöffnet. Wir halten mit den Fingern, Handflächen, Innenarmen, Bauch und Brust einen imaginären Ballon. Kommt die Dünung von vorne, heben wir ihn gedanklich an, kommt die Dünung vom Ufer zurück, dann senken wir ihn wieder ab. Nach einiger Zeit bauen wir die Übung aus: In der Vorstellung heben wir den Ballon nach oben und leicht nach vorne, gleichzeitig spannen wir Hände und Beine in Gedanken an. Kurze Entspannung! Kommt die Dünung vom Ufer zurück, spannen wir wieder Hände und Beine und ziehen den Ballon gleichzeitig nach unten und zum Körper. Danach wieder entspannen. Auf der nächsten Ebene stellen wir uns zusätzlich vor, dass jeder Finger der rechten Hand mit dem gleichen Finger der linken Hand durch eine Stahlfeder verbunden ist; das gilt auch für Handgelenke und Ellenbogen. Kommt die Dünung von vorne, drücken wir zusätzlich in der Vorstellung die Stahlfedern zusammen. Entspannen! Kommt die Dünung von hinten, ziehen wir die Federn etwas auseinander. Und wieder entspannen!
Mentales Training wirkt
Bei den Übungen solltet ihr immer mit der ersten Stufe beginnen und danach langsam steigern. Genauso wichtig wie das gedachte Anspannen ist das reale Entspannen, denn auch wenn man die Übungen „nur“ denkt, haben sie Einfluss auf die Muskulatur. So berichtete Spiegel Online am 22. November 2001 unter der Überschrift „Mentale Gymnastik: Gedanken lassen die Muskeln wachsen“ von einem Experiment der Cleveland Clinic Foundation in Ohio, bei dem die Probanden sich die Anspannung des Bizeps mit höchster Konzentration vorstellen sollten. Bereits nach 14 Tagen konnte ein Muskelzuwachs von durchschnittlich 13,5 Prozent festgestellt werden, der selbst drei Monate nach Ende des mentalen Trainings noch Bestand hatte! Sind wir hier der legendären Kraft der Inneren Kampfkünste auf der Spur?
Egal, ob man Yiquan als Gesundheitspflege oder Kampfkunst betreibt, Basisübung ist Zhanzhuang, das „Stehen wie ein Baum“. Die scheinbar unbewegte Position, die man mit verschiedenen Armhaltungen über kurze oder lange Zeit einnimmt, stellt ein effektives Training der Haltemuskulatur des Körpers dar. Diese, auch als rote Muskulatur bezeichnet, findet sich vornehmlich an Schultern, Brustkorb, Hüfte und Beinen; sie ist sehr gut durchblutet und ermüdet langsam. Beim Zhanzhuang wird die Körperhaltung verbessert, die Stabilität gestärkt und die Körpermitte gefestigt. Positiv sind auch die Auswirkungen des Stehens auf das Nervensystem und den Gleichgewichtssinn. So berichtete der mehrfache Kataweltmeister Luca Valdesi, dass er beim Üben der Kata Gankaku manchmal eine Stunde auf einem Bein stand.
Gute Übungen für die Haltemuskulatur sind auch Coretraining und Planking. Der Unterschied beim Zhanzhuang besteht aber darin, dass die Aktionen von Rumpf, Kopf, Armen und Beinen nicht ausgeführt, sondern lediglich intensiv vorgestellt werden. Dabei wird die weiße Bewegungsmuskulatur, die wir an vielen Stellen des Körpers finden, gezielt „angedacht“. Diese kann kürzere und schnellere Kontraktionen als die Haltungsmuskulatur durchführen, ermüdet aber schneller, da sie schlechter durchblutet ist. Wird die Bewegungsmuskulatur nicht regelmäßig trainiert, baut sie sich schnell wieder ab.
Beim Üben des Yiquan sind in der Vorstellung Rumpf, Kopf und Gliedmaßen durch Ballons, Stahlfedern etc. miteinander sowie mit der Umwelt (z. B. Wasser) verbunden und müssen gegen Widerstände Arbeit leisten. Hierbei wird die Muskulatur aber nicht aktiv angespannt wie z.B. beim isometrischen Training. Der Vorgang des Zusammenpressens und Auseinanderziehens wird lediglich in Gedanken erst langsam, dann mit fortschreitender Übung immer schneller ausgeführt, bis aus den beiden entgegengesetzten Bewegungen fast eine wird.
Fortsetzung folgt…
Text: Dieter Kießwetter
Fotos: Monika Kießwetter
(ema)