Yiquan (gesprochen: I-tschüän) ist eine Form des Qigong, ein effizientes System der Gesundheitspflege und eine Innere Kampfkunst. Die Übungen des Yiquan kann man im Liegen, Sitzen, Stehen und Fortbewegen ausführen, sie lassen sich sogar in den Alltag integrieren. Sie sind sanft und fließend, fördern die Körperwahrnehmung und entwickeln die innere Kraft, stellen aber auch mentale Anforderungen.
Noch befinden wir uns auf einer Ebene, die auch der Gesundheitspflege dient und in den Alltag eingebaut werden kann. Bei den folgenden Übungen seid ihr wieder aufgefordert mitzumachen!
Wir setzen uns auf einen Hocker oder Stuhl und stellen die Fußsohlen flach auf den Boden. Optimal ist ein Winkel von ca. 90 Grad zwischen Ober- und Unterschenkeln.
Yiquan im Sitzen und im Liegen
Wir spüren die Sitzfläche unter dem Gesäß und stellen uns vor, dass an der höchsten Stelle des Kopfes eine Schnur befestigt ist, die sanft nach oben gezogen wird. Der Kopf richtet sich auf, das Kinn wird etwas eingezogen, der Blick ist in die Ferne gerichtet, und nacheinander werden Nacken sowie oberer und unterer Rücken aufgerichtet. Falls wir vorher Kontakt mit der Stuhllehne hatten, ist dieser jetzt gelöst, und es ist auch eine Verlagerung des Gewichts auf der Sitzfläche zu spüren. Wir üben das Aufrichten ein paar Mal, bis wir mit der Sitzposition zufrieden sind. Man kann auch vor einem Spiegel üben, um sich darin zu kontrollieren.
Jetzt lassen wir die Oberarme hängen und heben die Unterarme, bis ein 90-Grad-Winkel entsteht; die Handflächen zeigen zueinander. Wer einen Stuhl mit Armlehnen hat, legt die Unterarme darauf. Jetzt kontrollieren wir wieder, ob wir aufgerichtet sitzen und Gesicht, Nacken, Rumpf und Extremitäten entspannt sind. Wir stellen uns vor, dass wir zwischen den Handflächen einen Ballon halten. Nicht hingucken! Diesen drücken wir langsam ein Stück zusammen, danach lassen wir ihn sich wieder ausdehnen. Wir machen die Übung ein paar Minuten und richten zwischendurch wieder die Wirbelsäule auf. Kurze Pause! Jetzt halten wir in Gedanken einen Luftballon zwischen den Knien, drücken ihn zusammen und geben wieder nach. Ihr sollt doch nicht hingucken! Nach einer kurzen Pause drücken wir gleichzeitig einen Ballon zwischen den Händen und einen zwischen den Knien zusammen und lösen die Spannung wieder. Nach ein paar Minuten geben wir die Ballons frei und lassen uns vom Faden an der höchsten Stelle des Kopfes in den Stand ziehen. Personen, die am Schreibtisch arbeiten, können diese Übung im Sitzen in ihren Arbeitsalltag einbauen. Sie ist nicht so auffällig wie die Stehübungen, die vielleicht von Kolleginnen und Kollegen oder Nachbarn kritisch beäugt werden.
Wer es noch angenehmer haben möchte, macht die Übung im Liegen. Die Fußsohlen sind aufgesetzt, die Oberarme berühren die Unterlage, die Unterarme sind im 90-Grad-Winkel aufgestellt, und die Handflächen zeigen zueinander. Dann wird wie im Sitzen geübt. Die Übung im Liegen ist besonders gut für Patienten in der Rekonvaleszenz geeignet.
Shili: Teste dich
Eine weitere Basisübung des Yiquan ist Shili, das „Kosten“ oder auch Testen der inneren Kraft Hunyuan, die wir bei den unbewegten Übungen des Zhanzhuang spüren konnten. Hunyuan heißt übersetzt „völlig rund“; es ist eine Kraft, die nicht zielgerichtet ist, die wie ein Ballon nachgeben, aber auch wie ein Airbag explodieren kann. Beim Shili setzen wir die vorher lediglich gedachten Bewegungen in reale um, wobei wir wiederum gegen imaginäre Widerstände arbeiten. Macht einfach mit!
Wie bei unserer allerersten Übung (nachlesen) stehen wir in warmem Wasser, diesmal aber bis zum Hals. Wir heben die gerundeten Arme, bis die Handflächen Richtung Gesicht zeigen. Wir verlagern Rumpf und Beine ein wenig gegen den Widerstand des Wassers nach vorne, gleichzeitig bringen wir Arme und Hände vor dem Körper zusammen. Diese Bewegung ist nach innen, unten und vorne gerichtet. Danach verlagern wir unseren Körper gegen das Wasser leicht nach hinten, gleichzeitig bringen wir Arme und Hände nach außen, oben und hinten in die Ausgangsposition. Diese Übung wiederholen wir ein paar Minuten, dabei bleiben die Fußsohlen fest auf dem Boden, und wir nehmen intensiv die Widerstände des imaginären Wassers wahr.
Bei dieser und anderen Shili-Übungen schließen und öffnen sich Arme und Hände in sechs Richtungen: nach innen – nach außen, nach unten – nach oben, nach vorne – nach hinten. Die Chinesen nennen das „Sechs Hände“. Der Begründer des Goju-Ryu, Miyagi Chojun, soll die Kata Tensho („Drehende Hände“) aus einer Form namens Tao Rokkishu („Sechs Hände“) entwickelt haben. Betrachtet man die Tensho, so findet man weiche (ju) Handtechniken in genau diese sechs Richtungen.
Mocabu: Reibender Schritt
Werden beim Shili die Arme und Hände betont, so stehen beim Mocabu, dem „reibenden Schritt“, Beine und Füße im Vordergrund. Gliedmaßen und Körper bewegen sich als Einheit, fließend, elastisch und harmonisch aufeinander abgestimmt wie die Fortbewegung einer Schlange oder eines Drachen. Vorsichtig, tastend und jederzeit bereit, zu stoppen oder blitzschnell die Richtung zu ändern. Lasst uns eine einfache Schrittübung machen!
Wir stehen mit geschlossenen Füßen, der Blick ist in die Ferne gerichtet, die Handrücken liegen auf dem Rücken. Jetzt öffnen wir die Fußspitzen zu einem Winkel von 45 Grad, verlagern das Gewicht auf den linken Fuß und führen den rechten Fuß in Richtung der Fußspitze knapp über dem Boden nach vorne, als würden wir ein Bällchen rollen. Zuerst setzt der Fußballen auf, dann die Sohle, und wir verlagern unser Körpergewicht darauf. Der linke Fuß rollt jetzt ein Bällchen bis zum rechten Fuß und von da nach schräg links vorne. So gehen wir je nach Raumgröße ein paar Schritte im Zickzack vorwärts, um dann auf demselben Weg rückwärts zu gehen und dabei permanent ein Bällchen unter der Fußsohle zu rollen.
Fali: Explodierende Kraft
Kommen wir nun zu Übungen, die zumeist nur von Kampfkünstlern gemacht werden. Um in deren Grundstellung zu gelangen, stehen wir zunächst mit geschlossenen Füßen. Dann drehen wir den linken Fuß 45 Grad nach außen, den rechten Fußballen setzen wir schräg nach vorne an eine Stelle, die einen Fußbreit rechts von der geraden Linie liegt. Die Fußsohle ist knapp über dem Boden, die Ferse berührt ihn nicht; das vordere Bein trägt lediglich 30 % des Körpergewichts, 70 % sind auf dem hinteren Bein, das nur leicht gebeugt ist. In dieser Stellung kann man Zhanzhuang und Shili üben, auch mit speziellen, für die Kampfkunst entwickelten Übungen. Die halbrunden Arme werden gehoben, die rechte Hand ist in Kinnhöhe, die linke in Brusthöhe, der Körper nach links abgedreht. Die Augen schauen in weite Ferne, dorthin, wohin wir unseren Gegner befördern wollen.
Wir bereiten nun Fali, die „explodierende Kraft“ vor. In unserer Vorstellung sind die Arme wie Nägel, unser Körper wie der Hammer. Wir stoßen den hinteren Fuß in den Boden und bringen ruckartig den Körper nach vorne, gleichzeitig stoßen die Arme mit den Handflächen in einer schließenden Bewegung nach vorne, innen und oben; das Körpergewicht ist kurzfristig zu 70 % auf dem vorderen Bein. Da in unserer Vorstellung die Hände auf glühendes Eisen treffen, ziehen wir sie und den Körper blitzschnell mit einer öffnenden Bewegung nach hinten, außen und hinten zurück in die Ausgangsposition. Nach einigen Minuten machen wir dann die gleiche Übung mit dem linken Fuß vorne. Durch lange Praxis werden die Gewichtsverlagerungen immer kürzer und schneller, der Gegner wird nicht mehr weggeschubst, sondern schockartig erschüttert wie bei einem heftigen Zusammenstoß im Autoscooter oder Straßenverkehr. Verstärkt werden kann diese Wirkung durch einen kurzen Stimmeinsatz (Shisheng, jap. Kiai) im Augenblick des Auftreffens. Im fortgeschrittenen Stadium wird dieser nur noch innerlich ausgeführt.
Des Weiteren gibt es im Yiquan als Partnerübungen das Tuishou (Pushing Hands), das dem Kakie des Goju-Ryu ähnelt, sowie Sanshou, den Freikampf. Es gibt feste Regeln, um Verletzungen zu vermeiden. Geübt werden neben den Handtechniken auch Fußtritte zum unteren Bereich sowie Knie-, Hüft-, Ellenbogen-, Schulter- und Kopfstöße. Diese Übungen lassen sich aber besser auf Lehrgängen als in einem Zeitungsartikel vermitteln.
Auf der Suche nach Hunyuan
Hat uns die Betrachtung des Yiquan weitergebracht auf der Suche nach der Entwicklung der legendären Kraft Hunyuan der Inneren Kampfkünste? Schauen wir erst einmal, wie es mit der Entwicklung von Kraft und Muskulatur bei anderen Sportarten aussieht. Da wir oft in Gedanken im Wasser geübt haben, betrachten wir das Schwimmen. Hier wird Muskulatur dadurch aufgebaut, dass die Sportlerinnen und Sportler in der Realität den mechanischen Reizen des Wasserwiderstandes ausgesetzt sind. Zusätzlich ist sportartspezifisches Krafttraining wichtiger Teil des Muskelaufbaus. Bei unserem Sport Karate sind Liegestütze, Kniebeugen und Bauchzüge beliebt, ebenso die zahlreichen Wiederholungen von Grundschultechniken und Kampfkombinationen.
Viele Sportarten arbeiten mit mentalem Training. In Gedanken wird eine Strecke abgefahren (z. B. Ski- und Bobsport) oder der Anlauf intensiv vorgestellt (z. B. Hoch- und Weitspringen). Manche Karateka gehen vor der Ausführung einer Kata deren Ablauf noch einmal in Gedanken durch. Beim vielzitierten „Kampf gegen imaginäre Gegner“ steht jedoch zumeist nicht die Vorstellung der kämpferischen Anwendung im Vordergrund, sondern die Konzentration auf den Ablauf und die Ausführung der äußeren Form. Oftmals wird dann die Kraft mit vorgerecktem Kopf, verzerrtem Gesicht und sekundenlangem Schreien zum Ausdruck gebracht. Körperstruktur, Konzentration und Punktzentrierung bleiben dabei leider auf der Strecke.
Körper und Geist
Andere Sportarten beginnen mit der körperlichen Bewegung, Yiquan beginnt mit der geistigen Vorstellung. Andere Sportarten nutzen mentales Training, Yiquan ist mentales Training. Mit den Standübungen wird die Haltungsmuskulatur gestärkt und der Körper verwurzelt; gearbeitet wird dabei häufig mit der Imagination, dass die Fußsohlen durch kleine Wurzeln mit dem Boden verbunden sind. Mit dem gedachten Üben gegen Widerstände (Wasser, Ballons, Stahlfedern) wird sanft und nachwirkend auf die Bewegungsmuskulatur Einfluss genommen. mit Hilfe präziser Vorstellungen werden nicht nur die Muskeln gekräftigt, sondern effiziente Bewegungen und Aktionen können genauer vermittelt und im Gehirn abspeichert werden, als es durch das ermüdende Training komplizierter und festgelegter Bewegungsformen möglich ist. Die Feinkoordination von Haltungs- und Bewegungsmuskulatur wird verbessert, die Eigenwahrnehmung (Propriorezeption) wird gesteigert, die Bewegungen und Aktionen werden weicher und elastischer. Man kann variabel und explosiv in alle Richtungen agieren, weil die innere Kraft nicht in eine Richtung fokussiert ist. Weg von der äußeren Form, hin zur inneliegenden Essenz, weg von komplexen Bewegungsmustern, hin zu einfachen Prinzipien wie dem Öffnen/Expandieren bei Abwehren und dem Schließen/Komprimieren bei Angriffen. All das zusammen macht Hunyuan, die Kraft der Inneren Kampfkünste, aus.
Text: Dieter Kießwetter
Fotos: Monika Kießwetter
(ema)