Qigong (Ch‘i-kung) lässt sich mit „fortwährender Arbeit am Qi“ oder auch als „Fähigkeit im Umgang mit dem Qi“ übersetzen.
Es stellt eine Synthese von Atmung, Meditation/Konzentration und Körperbewegungen dar mit dem Ziel, den Fluss des Qi im Körper zu aktivieren, zu stärken, zu harmonisieren und zu leiten. Dies immer vor dem Hintergrund, die Gesundheit zu fördern und das Leben zu verlängern. Sei es nun als „hartes“ Qigong in den Kampfkünsten oder als „weiches“ Qigong in medizinischer Hinsicht, um Krankheiten vorzubeugen und zu heilen. Jedoch sind die Übergänge fließend.
Schwieriger ist es, das Wort „Qi“ (ausgesprochen ähnlich wie „tchi“, im Japanischen „Ki“) zu erklären. Das chinesische Schriftzeichen bedeutet eine Naturkraft, ohne die es kein Leben gibt. Qi findet sich in der gesamten Welt außerhalb und in uns. Die Bedeutung ist vielfältig: von Energie, Odem, Fluidum über Luft, Gas, Dampf bis hin zu den Emotionen des Menschen und die Tätigkeit seines neurohormonalen Systems.
Schon bei der Zeugung erhält der zukünftige Mensch einen genetischen Bauplan, das sogenannte Ursprungs-Jing, und ein Energiereservoir, das vorgeburtliche Qi. Beides kann nur verbraucht, nicht aber aufgefüllt werden! Deshalb sollte man sorgsam damit umgehen. Das nachgeburtliche Qi, das wir aus der Umwelt (Nahrung, Luft, Licht) gewinnen, kann aber wieder aufgefüllt werden, liefert uns die Energie fürs Leben und verlangsamt den Verbrauch des vorgeburtlichen Qi. Seine Pflege kann also unser Leben verlängern. Die „innere Leitung“ dieser Prozesse hat das Shen (jap.: Shin), das sich nur unzureichend mit den Worten Bewusstsein, Geist, Seele usw. übersetzen lässt.
Im Körper fließt das Qi in festgelegten Richtungen auf Leitbahnen, die ähnlich wie ein Netz aus Kanälen angelegt sind. Der aus der Geografie entlehnte Begriff „Meridiane“ trifft hier nur bedingt zu, da die Verbindungen nicht nur oberflächlich, sondern auch im Körper angelegt sind. Sie sind nicht identisch mit Muskeln, Nerven und Blutbahnen und deren Aktionsströmen, die man messen kann. Mit streng wissenschaftlichen Methoden konnte man sie noch nicht nachweisen, aber die therapeutischen Erfolge zeigen, dass da was sein muss. Möglicherweise handelt es sich um Energieströme im Bindegewebe.
Die traditionelle chinesische Medizin (im Folgenden: TCM) sieht den Menschen als ein komplexes System, das mit der Umwelt interagiert (z. B. Licht, Luft, Nahrung) und dessen Gleichgewicht gestört werden kann. Wie bei einem Kanalsystem können Leitbahnen trocken fallen oder gestaut werden und überlaufen, was zumeist negative Folgen hat. Um die Störung zu finden, befragt man in der Diagnose Patient:in ausführlich auf Lebensgeschichte und Krankheitssymptomatik hin (Anamnese). Des Weiteren können erfahrene Ärzt:innen an Atmung und Stimme sowie an Haut- und Mundgeruch feststellen, in welchem Bereich die Störung liegen könnte. Um weitere Hinweise auf den körperlichen und seelischen Zustand zu bekommen, werden Mimik und Gestik, Körperbau, Haut- und Gesichtsfarbe in Augenschein genommen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Zunge gewidmet, da deren Zustand auf bestimmte Krankheiten hindeutet. Bei der Betastung wird der gesamte Körper auf Spannungszustände, Hautfeuchtigkeit und Druckempfindlichkeit hin untersucht. Um den energetischen Zustand zu ermitteln, kommt der Pulsdiagnostik eine besondere Rolle zu. An beiden Unterarmen wird der Puls an jeweils drei Stellen mit verschiedenem Druck in drei Tiefen ertastet, wobei Frequenz, Volumen und Rhythmus Aufschluss über Krankheiten geben. Ist die Ursache der Störung gefunden, kommen in der Therapie der TCM verschiedene Methoden zum Einsatz, häufig auch kombiniert. Die fünf wichtigsten sind:
Akupunktur & Moxibustion
Punkte auf den Leitbahnen werden bei der Akupunktur mit Nadeln verschiedener Länge und Dicke und bei der Moxibustion mit glimmendem Beifuß (Moxa, jap.: Mogusa) gereizt.; entweder direkt auf der Haut oder als Wickel um die Nadel. Diese Art der Therapie wird auch zur Behandlung bei Covid-19 eingesetzt.
Arzneimitteltherapie
Hier kommen mehr als 500 Einzelsubstanzen zum Einsatz. Circa 85 % sind pflanzlicher Herkunft, wobei auch seltene Pflanzen gerne genommen werden. 5 % sind Mineralien, weitere 5 % sind Präparate und Teile von Wirbeltieren wie z. B. gemahlene Knochen des Tigers oder das Horn von Nashörnern, das als Potenzmittel gehandelt wird. Zwar ist nach dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen der kommerzielle Handel mit geschützten Tier- und Pflanzenarten eingeschränkt oder verboten, doch gibt es einen blühenden Schwarzmarkt mit Milliardenumsätzen. Die verbleibenden 5 % setzen sich aus Teilen von Weichtieren sowie aus Insekten und Würmern zusammen. Als ich vor einigen Jahren bei einem chinesischen Arzt in Behandlung war, erhielt ich begleitend zur Akupunktur einen „Tee“, der sich aus den verschiedensten Ingredienzien zusammensetzte, beim Kochen erbärmlich stank und genauso schmeckte. Ein Bestandteil war „Dilong“, der Erddrache, auch Regenwurm genannt! Beim nächsten Besuch fragte ich den Arzt nach dem Warum: Der Regenwurm wühlt sich durch die Leitbahnen und macht diese wieder durchgängig.
Diätetik & Massage
Die chinesische Diätetik ist nicht identisch mit der im Westen entwickelten „Fünf-Elemente-Ernährung“! Sie fußt auf den Theorien der chinesischen Medizin und steht in der Tradition der Kräuterheilkunde. Lebensmittel werden nach den Geschmacksrichtungen (scharf, süß, neutral, sauer, bitter, salzig) und dem Temperaturverhalten (kalt, kühl, neutral, warm, heiß) charakterisiert. Ähnlich wie Arzneimittel haben sie verschiedene Wirkungsprofile und werden vorbeugend oder therapiebegleitend eingesetzt; ihre Zubereitung zu Breien, Suppen und Gedünstetem erfolgt anwendungsspezifisch.
Die manuelle Therapie der TCM wird Tuina genannt. Sie beinhaltet Massagetechniken zur Lockerung der Muskulatur, des Bindegewebes und des Bewegungsapparates sowie energetische Techniken wie die Akupressur, die Behandlung von Akupunkturpunkten mit Druck und Massage. Diese wirkt ähnlich wie die Akupunktur, ist aber nicht so intensiv.
Qigong
Die Arbeit mit dem Qi kann im Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen erfolgen; eng verbunden ist sie mit Atemtechniken, die das Ziel haben, aus der eingeatmeten Luft deren Essenz, das Qi, herauszufiltern. Im Folgenden möchte ich eine Übung in körperlicher Ruhe vorstellen, bei der das „Reine Qi“ aus der Atemluft gewonnen und mittels der Vorstellungskraft (Yi) auf dem Kleinen Energiekreislauf bewegt wird. Dieser besteht aus zwei Leitbahnen: dem Renmai (Diener-, Konzeptionsgefäß), das vom Perineum (zwischen Anus und Geschlechtsteil) über die Mittellinie von Bauch, Brust, Hals und Kinn zur Unterkiefermitte in der Vertiefung unterhalb der Unterlippe reicht, und dem Dumai (Lenker-, Gouverneursgefäß), das ebenfalls im Perineum beginnt und über die Mittellinie von Rücken, Nacken, Kopf und Oberlippe bis in die Falte zwischen Kiefer und Oberlippe verläuft.
Die Zunge stellt die Brücke dar, die beide verbindet. Ein zweite Verbindung führt vom Dienergefäß im Punkt Qihai (Meer des Qi, zwei Fingerbreit unterhalb des Nabels) durch die Bauchdecke zum unteren Dantian (jap.: Tanden), das als Zentrale des Qi angesehen wird. Übersetzt heißt Dantian „Zinnoberfeld“, weil in alten Zeiten und teilweise heute noch in China Medizinen benutzt wurden/werden, die das rote Mineral, eine Verbindung von Quecksilber und Schwefel, enthalten. Vom Dantian aus tritt das Qi im Punkt Mingmen (Tor des Lebens, zwischen dem zweiten und dritten Lendenwirbel auf Höhe der Nieren) ins Lenkergefäß über und kann darin nach oben steigen.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Lenkung des Qiflusses ist eine ruhige, störungsfreie Umgebung und die Bereitschaft, über einen längeren Zeitraum intensiv mit dem Qi zu arbeiten. Üben sollte man immer zur gleichen Tageszeit, am besten dreimal täglich für ca. 30 Minuten, aber nicht direkt nach Mahlzeiten. Für den Anfang empfehle ich aus eigener Erfahrung, die Rückenlage einzunehmen. Der Untergrund sollte bequem sein, unter den Kopf sollte man ein flaches Kissen oder eine zusammengefaltete Decke legen, sodass die Halswirbelsäule nicht gekrümmt ist. Die Zunge soll locker im Mund liegen, ihre Spitze bei geschlossenen Lippen das rückwärtige Zahnfleisch der oberen Schneidezähne berühren. Die Beine werden ausgestreckt, die Arme können neben dem Körper liegen, oder die Handflächen werden übereinander auf den Punkt Qihai unterhalb des Nabels gelegt. Ich habe anfangs diese Übung im Bett gemacht und mich zugedeckt, um nicht auszukühlen. Manchmal bin ich auch eingeschlafen, was aber nicht schlimm ist, da zumindest die Entspannung gewirkt hat!
Zuerst sollte man einen gleichmäßigen Atemrhythmus finden, wobei das Ausatmen etwas länger ist als das Einatmen. Beim Ausatmen denkt man intensiv an das „Herznest“ (Xinwo), eine Region auf dem Brustbein in Höhe der Brustwarzen, oftmals auch als mittleres Dantian bezeichnet. Wer damit Probleme hat, kann sich zuerst auf den Kehlkopf konzentrieren. Schweift man mit den Gedanken ab, zählt man jeden Atemzug, bis man zehnmal ein- und ausgeatmet hat. Dies wiederholt man, bis keine störenden Gedanken mehr da sind. Nach circa einer Woche kann man in der Gegend des Kehlkopfes und des Brustbeins eine wohlige Wärme spüren. Sollte sich das Gefühl nicht einstellen, bitte nicht aufgeben oder es erzwingen wollen, sondern die Körperhaltung korrigieren und entspannt weiterüben.
Nach ein, zwei Wochen regelmäßigen Übens stellte sich bei mir zuerst ein angenehmes Wärmegefühl im Hals und danach auch im Brustbereich ein. Daraufhin versuchte ich im nächsten Schritt, das Qi mit der beschriebenen Atemtechnik und Vorstellung entlang des Dienergefäßes zum unteren Dantian zu leiten. Über Tage und Wochen stellte sich keine Wirkung ein, und ich war drauf und dran aufzugeben. Eines Abends, als ich bereits einschlief, trat dann ein Phänomen auf, das mich so überraschte, dass ich spontan aufrecht im Bett saß und an das ich mich heute nach mehr als 35 Jahren immer noch lebhaft erinnere! Es war das Gefühl, als würde ich auf nüchternen Magen einen hochprozentigen Schnaps trinken, der heiß durch Kehle und Speiseröhre rinnt und im Bauch mit großer Hitzewirkung explodiert. Erst nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, wurde mir klar, dass ein starker Qifluss den Unterbauch erreicht hatte. Beim nächsten Üben war das Phänomen nur noch halb so extrem und minimierte sich hin zu einem angenehmen Wärmegefühl, das ich wenig später auch im Sitzen, Stehen und sogar Gehen hervorrufen konnte.
Übt man regelmäßig und füllt das untere Dantian mit Qi, wird dieses schließlich über das Tor des Lebens (Mingmen) in das Lenkergefäß überfließen und dort wie in einem Kapillar nach oben steigen – erlebbar durch ein aufsteigendes Wärmegefühl. Erreicht dieser Qifluss den Endpunkt des Lenkergefäßes im Gaumen, kann über die Zunge als Brücke der Kreislauf geschlossen werden. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das jemals gelang. Positive Wirkungen der Übungen zeigten sich jedoch schon nach kurzer Zeit; so senkte sich mein Blutdruck ohne Medikamente auf ein Normalmaß, mein Ruhepuls sank, und mein Schlaf wurde tiefer und entspannender.
Das „Bewegen des Reinen Qi im Kleinen Energiekreislauf“ wird in der TCM zur Milderung zahlreicher Krankheitsbilder empfohlen, z.B. bei Schlaflosigkeit, Herzrhythmusstörungen, Atembeschwerden, Niereninsuffizienz und andere, auch schwer heilbare Krankheiten. Voraussetzung für die Wirkung ist aber immer das regelmäßige Üben!
Text und Fotos: Dieter Kießwetter
In der Karate Aktuell 4/2021 werden wir Qigong-Übungen mit körperlicher Bewegung vorstellen…
(ema)