Pff! Pff! Pff! Das gleichmäßige Geräusch von Ellbogen, die auf Pratzen treffen, schallt durch die Trainingshalle, begleitet von hörbarem Ausatmen – Musik in den Ohren von Kampfsportler:innen. Bei diesem offenen Ferientraining, das ich an einem heißen Sommertag Ende Juli 2024 mit der Kamera begleiten darf, wird nicht lang gefackelt: Nach dem Angrüßen geht es sofort an die Schlagpolster, die wenig später wiederum gegen Partner:innen getauscht werden. Am Ende der Einheit setzt Ludwig die einzelnen Kombinationen zu einem Ablauf, einer Art kleinen Kata zusammen, die gewissermaßen als „Notizblock“ für das Geübte dient und auf kleinstem Raum geübt werden kann.
Techniken aus den Kata früh, regelmäßig und kreativ am Partner zu üben, ist für Ludwig wichtig: „Das ist der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis, gerade für Breitensportler. Kata und Kumite auf diese Art zu verzahnen, beugt einer einseitigen Spezialisierung vor. Schon als Gelbgurte üben die Karateka bei mir Anwendungen, damit natürliche Bewegungen wachsen können. Sonst bleibt alles leere Form. Von Taiji Kase habe ich gelernt, dass man das Karate individuell an den eigenen Körper anpassen muss, damit es funktioniert.“
Dabei sei im Training weniger in der Regel mehr, damit die Teilnehmenden nicht überfordert werden, sondern mit Spaß bei der Sache bleiben. Seine Einheiten haben daher immer einen klaren Fokus. Diesmal sind es Ellbogentechniken.
Dabei schöpft Ludwig auch aus seinem Erfahrungsschatz, den er als Ordnungsbeamter zum Beispiel bei Kontrollen und bei Einsätzen im Karneval gewonnen hat. Er weiß um die Rolle von Alkohol und Drogen bei tätlichen Auseinandersetzungen und dass ein intoxikierter Angreifer nicht nur enthemmt, sondern tendenziell auch schmerzunempfindlicher ist. Einige der Kombinationen, die heute geübt werden, sind also tatsächlich praxiserprobt.
Auch seine Empathie für ganz unterschiedliche Menschen wurde durch den Beruf gefördert und geschult. Für seine jugendlichen Schützlinge im Verein ist er gerne Ansprechperson und Konstante, wenn sie durch schwierige Zeiten gehen. Kommen neue Leute zum ersten Mal ins Training, ist es ihm wichtig, nach den Motiven zu fragen – damit zum Beispiel nicht versehentlich reale Gewalterfahrungen getriggert werden. Überhaupt legt er Wert auf Fremd- und Selbstschutz: „Beim Kindertraining sitzen die Eltern immer auf der Bank.“
Mit 43 Jahren hat sich Ludwig nochmal beruflich verändert, ist vom mittleren in den gehobenen Dienst gewechselt. „Verwaltung und Ordnung haben mir schon immer Spaß gemacht und da ich früher schwerer Asthmatiker war, was sich später zum Glück verflüchtigt hat, hätte ich keinen körperlich schweren Beruf ausüben können – so bin ich ins Beamtentum gerutscht“, resümiert er seinen beruflichen Werdegang. Die Mischung aus Innen- und Außendienst im Ordnungsamt habe ihm gefallen, hätte aber auch Schattenseiten gehabt: „Es gab persönliche Bedrohungen gegen meine Frau und mich. Monatelang habe ich das Haus nur durch den Garten verlassen, um besser sehen zu können, wer draußen vielleicht auf mich wartet.“
Seit 2020 ist Ludwig Rentner. „Damals ging ich mit Verdacht auf Herzinfarkt zum Arzt, der dann ein schweres Burnout diagnostizierte“, erzählt er. In zweieinhalb Jahren Therapie habe er gelernt, besser auf sich zu achten. Dabei spielt der Sport für ihn eine wichtige Rolle: „Morgens gehe ich täglich zu Fuß ins Fitnessstudio. Viermal wöchentlich wird gehantelt. Ich möchte meine Gelenke durch eine gute Muskulatur schützen. Karate trainiere ich täglich – für mich allein. Mit meinen 68 Jahren möchte ich mich weiterhin gut bewegen können. Und dieses Ziel bestimmt Methode und Inhalt.“
Dreimal wöchentlich unterrichtet er im Sakura Dojo Neuss, der Karate-Abteilung des KSK Konkordia 1924 Neuss, die er 1989 gegründet hat. Ludwig steht bei allen Trainingseinheiten selbst in der Halle, teils arbeitet er im Team mit anderen Trainern zusammen. „Wir haben aktuell 170 Mitglieder, je zur Hälfte Kinder und Erwachsene. Unser spezieller Familientarif führt dazu, dass oft erst die Kinder bei uns einsteigen und später die Eltern dazustoßen“, erzählt er.
Manchmal hilft er auch in anderen Vereinen als Trainer aus, wenn Not am Mann ist, und an den Wochenenden stehen oft Lehrgänge auf dem Programm: „Die dauern meist vier Stunden, sind offen für alle und in der Regel kostenfrei.“ Denn Ludwig möchte kein Geld: „Mir ist es wichtig, den Leuten zu helfen, sie weiterzubringen, vielleicht etwas Gute für die Allgemeinheit zu tun. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich keinen Zuverdienst brauche.“
Seit 1995 engagiert Ludwig sich außerdem für den Karate-Dachverband Nordrhein-Westfalen. Er war Vizepräsident, Geschäftsführer, Schatzmeister und ist Koordinator des Stiloffenen Karate. „Solange man mich in dieser Position haben möchte, mache ich auch weiter“, sagt Ludwig, „aber niemand ist unentbehrlich.“ Überhaupt plädiert er dafür, das Konkurrenzdenken abzulegen und neue Leute aufzubauen: „Andere Menschen gehen vielleicht andere Wege als man selbst, aber die können auch zum Ziel führen. Ich bin da offen, höre anderen gerne zu und übernehme auch Dinge, die ich gut finde.“
Heute stehen Kata, Kata-Bunkai und Selbstverteidigung im Mittelpunkt seines Trainings, aber der Leistungssport ist Ludwig nicht fremd. Er hat erfolgreiche Athleten in Kata und Kumite hervorgebracht und war im KDNW auch jahrelang als Kampfrichter aktiv.
„Alles in meinem Leben dreht sich irgendwie um Karate“, sagt Ludwig. Dabei hat ihn ursprünglich eine negatives Erfahrung zum Kampfsport geführt: „Mit 17 Jahren hat mir jemand ein Messer an den Hals gehalten – ein Erlebnis mit negativen Effekten: Ich hatte Angst, bin nicht mehr vor die Tür gegangen und habe schließlich nach Kompensation gesucht. Zunächst bin ich beim Kendo gelandet, in den folgenden Tagen kamen dann Judo, Jiu-Jitsu, Karate und Kobudo dazu. Ich dachte mir: Wenn ich vieles lerne, nützt das auch viel. Nach einem Jahr war ich dann körperlich total erschöpft. Und fast erleichtert, dass die Kendo- und Judo-Gruppen schlossen. Jiu-Jitsu gab ich wegen meiner Gelenke auf. Aber ich hab gemerkt: Karate ist geil!“ Das Training war damals hart: „Das war Vollkontakt-Karate, Yushinkai, mit einem Trainer aus Osaka, Kinoshita, der fünf Jahre an der japanischen Realschule in Düsseldorf unterrichtete. In dieser Zeit habe ich unwahrscheinlich viel Prügel bezogen, aber genauso viel gelernt und vor allem meine Angst besiegt. Karate war für mich wie eine Therapie – Angstbewältigung. 1974 hatte ich angefangen und 1979 meinen ersten Dan gemacht. Als Kinoshita dann zurück nach Japan ging, wollte er, dass ich ihn begleite. Ich habe abgelehnt.“
Auch nach 50 Jahren ist die Begeisterung fürs Karate bei Ludwig ungebrochen und seine Überzeugung: „Karate bietet alles, was wir für eine gute Selbstverteidigung brauchen. Wir müssen nur den Mut haben, es uns zu nehmen.“
Für die Zukunft wünscht er sich unter anderem mehr Wanderungen im Bergischen Land mit seiner Frau, Zeit mit den Hunden – als bewusster Ausgleich zum Karate, um das sich schon so lange sein ganzes Zeitmanagement und der Großteil seines Lebens dreht.
Zum Abschluss brennt mir noch eine letzte Frage auf der Zunge: „Das T-Shirt, hast du dir das selbst gekauft?“ Er lacht: „Nein, das war ein Geschenk.“
Text und Fotos: Eva Mona Altmann
(ema)