Was weißt du über Bunkai? Wenn es dir geht wie den meisten Leuten, dann weißt du ein kleines bisschen. Du weißt, dass die alten Karate-Kata mehr sind als bloß „Kriegstänze“ und das verschiedene Techniken aus der Kata tatsächlich eine tödliche Anwendung in der Selbstverteidigung (= Bunkai) haben. Aber… Wusstest du, dass es drei unterschiedliche Arten von Bunkai gibt? Omoto, Ura und Honto. Pass auf, die Sache ist so: Aufgrund der komplexen und wechselhaften Geschichte des Karate, ist mit der Zeit das Wissen um die Bedeutung vieler Techniken aus den Kata verloren gegangen.
Wir kennen die ursprüngliche Bedeutung vieler Kata schlicht und ergreifend nicht. (Aber wir sind ziemlich gut im Raten!)
Deshalb hat die Karate-Welt drei gebräuchliche Methoden entwickeln, um die Bunkai bzw. praktischen Anwendungen aus den unterschiedlichen Kata-Bewegungen zu „extrahieren“.
Diese drei unterschiedlichen Arten der Bunkai möchte ich dir heute vorstellen: Omote, Ura und Honto.
Persönlich nutze ich alle drei Methoden sehr gerne (je nach Situation), aber die meisten Leute scheinen eine bis zwei von ihnen zu bevorzugen.
Also – bist du bereit, mehr herauszufinden? Dann pass mal auf!
1. Omote (was du siehst, bekommst du)
Die erste Methode ist als „Omote“ bekannt. Auf Japanisch bedeutet Omote „Oberfläche“. Omote Bunkai ist also, schon dem Namen nach, sehr einfach und direkt. What you see is what you get – was du siehst, bekommst du.
Zum Beispiel: Wenn es wie ein Block aussieht, dann ist es wahrscheinlich auch ein Block. Logisch, oder?
Jede Technik wird wörtlich genommen. Man könnte sagen, Omote Bunkai ähnelt dem wissenschaftlichen Prinzip von Ockhams Rasiermesser oder dem berühmten Ententest: „Wenn es aussieht wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente – dann ist es wahrscheinlich eine Ente.”
Die Anhänger:innen der Omote Bunkai betonen gerne, dass praktische Selbstverteidigung leicht zu merken, einfach auszuführen und brutal effektiv sein muss. Warum es also kompliziert machen? Bunkai sollte einfach sein. Wenn etwas also aussieht wie ein Block, dann ist es wahrscheinlich auch ein Block. (Kein Hebel, Wurf, Schlag und keine Befreiungstechnik.)
Ich persönlich zeige Omote Bunkai gerne in der Anfangsphase, wenn ich eine neue Kata unterrichte, weil dadurch der Lernprozess beschleunigt wird, ohne die die korrekte technische Ausführung der Techniken zu gefährden.
Ergibt das Sinn für dich? Okay, dann kommen wir zu nächsten Methode.
2. Ura (die wahre Bedeutung ist „versteckt“)
Der zweite Interpretationsweg für die praktischen Anwendung einer Kata ist bekannt als „Ura“ Bunkai. Auf Japanisch heißt Ura wörtlich „dahinter“. Dementsprechend, wie der Name schon impliziert, ist das Konzept von Ura ein bisschen versteckt, geheim oder fortgeschritten. Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen.
Zum Beispiel: Wenn es wie ein Block aussieht, könnte es ein Würgegriff sein. Verstehst du?
Die Verfechter:innen der Ura Bunkai sagen, Karate ist eine so tödliche Kunst, dass viele alte Techniken verschleiert und vor neugierigen Blicken geschützt werden mussten, indem man ihr Erscheinungsbild verändert hat. Auch wenn eine Kata also von ihrer Natur her sehr einfach aussehen mag, können sich in ihr tatsächlich einige sehr fortgeschrittene Anwendung verstecken. Das ist natürlich das komplette Gegenteil von Omote – wo sich ja alles an der Oberfläche abspielt.
Ich übe Ura Bunkai gerne mit höher graduierten Schüler:innen, weil mir das einen guten Grund gibt, exotische Druckpunkte, brutale Gelenkhebel, süße Würfe und schmutzige Tricks anzuwenden, die normalerweise kein Bestandteil des Prüfungsprogrammes sind.
Klingt das nicht cool? Aber hallo! Kommen wir zur dritten und letzten Art der Bunkai.
3. Honto (okay, lassen wir den ganze Firlefanz weg)
Zu guter Letzt haben wir da noch „Honto“. Auf Japanisch bedeutet Honto wörtlich „wirklich“ oder „wahr“. Und genau das ist es. Die verdammte Wahrheit. The real deal!
Weißt du, wenn die Leute behaupten, ihre Bunkai sei „Omote“ oder „Ura“, dann sagen sie das manchmal aus einem ziemlich schlechten Grund: Sie sind faul. Sie sind in eine verbreitete Falle getappt: Entweder zeigen sie eine Bunkai, die genau so aussieht wie die Kata, aber völlig unrealistisch ist (Verteidigung gegen geradlinige Karate-Angriffe) und nennen das dann „Omote“. Oder aber sie präsentieren eine wirksame und praktische Bunkai (die großartig gegen Straßenangriffe funktioniert), aber kein bisschen aussieht wie die eigentliche Kata und nennen das dann „Ura“. Verstehst du? Das passiert sehr oft.
Manche Leute scheinen der Grundform der Kata nicht folgen zu können ohne sie zu vereinfachen (und das ganze „Omote“ zu nennen) oder die Bewegungen komplett zu verzerren (und das ganze „Ura“ zu nennen). Wenn du mich fragst – ich nenn das „Schummeln“. So funktioniert das hier nun mal nicht, ich kauf dir deine Erklärungen nicht ab,
Bro! Da musst du dir schon etwas mehr Mühe geben!
Ich meine, klar – die ursprüngliche Bunkai der Kata ist tatsächlich im Laufe der Zeit verloren gegangen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht existiert. Mach dich auf die Suche! Besorg dir Bücher, schau YouTube, lies gute Blogs, besuch Lehrgänge, reise mehr, mach dir Notizen, meditiere, frag herum! Streng dich an!
Omote und Ura Bunkai sind großartige Trainingswerkzeuge, wenn man sie korrekt verwendet. Aber in neun von zehn Fällen sind sie nicht die Wahrheit. Lass dich nicht von Verschwörungstheorien einlullen, dass alle Meister in der Geschichte des Karate auf magische Weise übereingekommen seien, die Funktionalität ihrer kostbaren Kunst durch die Übersetzung in die täuschende Form der Omote/Ura Bunkai zu gefährden, während die Honto Bunkai doch auf dich wartet – wenn du nur richtig nach ihr suchst!
Klingt schwierig? Das ist es auch. Und genau das ist der Punkt.
Wie sagte Martial Arts-Legende Donn F. Draeger: „Kata als Demonstration ist eine oberflächliche und beschränkte Verwendung der Kata.“
Text: Jesse Enkamp (aus dem Englischen übersetzt von Eva Mona Altmann)
Über den Autor:
KARATEbyJesse ist vielen Karateka ein Begriff. Dahinter verbirgt sich der Schwede Jesse Enkamp, Kata-Wettkampfathlet und Inhaber eines eigenen Dojos und einer eigenen Karate-Gi-Marke, der sich mit interessanten und gut recherchierten Artikeln zum Karate und angrenzenden Themenbereichen sowie mit ansprechenden Videos von Turnieren, Lehrgängen und Reisen sowie Trainingstutorials im Internet einen Namen gemacht hat. Neben der Webseite www.KARATEbyJesse.com betreibt er auch einen YouTube-Kanal und ist in den sozialen Medien vertreten.
In der Vergangenheit waren seine Texte nur mit genügend Englischkenntnisse zugänglich. Aber mit freundlicher Genehmigung des Autors erscheinen seit Mitte 2014 ausgewählte Artikel in der deutschen Übersetzung von Eva Mona Altmann (Dipl.-Übers.) beim KDNW. Nach einer kleinen Unterbrechung setzen wir die Reihe nun fort.
Wir freuen uns sehr über diese grenz- und sprachübergreifende Kooperation mit Jesse Enkamp!
Fotos (v.l.): Krieger, Oste, Schaub
(ema)