Bunkai sollte einfach sein. Das ist meine Philosphie, wenn es darum geht, die Techniken einer Kata anzuwenden. Aber trotzdem tun sich viele Leute schwer damit. Was bedeutet diese Bewegung? Was ist der Zweck jener Technik? Wie wendet man sie am Gegner an?
Den meisten von uns wurde Bunkai nie kohärent und strukturiert beigebracht. (Und wenn doch, dann meist eher planlos oder als Randnotiz.) Warum ist das so? Weil es in neun von zehn Fällen unseren Lehrer:innen genauso ergangen ist!
Die Folgen sind verheerend:
- Die Leute entwickeln einen Widerwillen gegen Kata (aufgrund ihrer abstrakten Natur).
- Die Leute reden Kata schlecht (weil die realistischen Anwendungen nie gezeigt werden).
- Die Leute erfinden ihre eigene Kata (bei der ihnen die Bedeutung jeder Bewegung klar ist).
- Die Leute ändern die Techniken der Kata (um den Bewegungen Sinn zu verleihen).
- Die Leute scheren sich nicht länger um die Bunkai (sie geben sich mit einer „allgemeinen Idee“ zufrieden).
- Die Leute ignorieren Kata komplett – und überlassen uns Karate Nerds diese „Kriegstänze“.
Kurz gesagt: Viele Leute sehen schlicht keinen Nutzen mehr darin, die Kata zu erforschen. Das bereitet ihnen nichts als Kopfschmerzen. Und, wenn ich ehrlich bin, ich kann das verstehen. Ich fühle mich auch nicht gerne dumm.
Aber ich kann mir diese Entwicklung nicht länger tatenlos anschauen – anschauen, wie unsere uralten Kata zu einer bloßen körperlichen Darbietung verkümmern oder zu einem Haufen merkwürdiger Bewegungen, die man sich für Prüfungen und Turniere einprägen muss, ohne dass ein wirklicher Gehalt in ihnen steckt.
Hör mal: Wenn du mehrere Kata kennst, ohne die uralten Lektionen zu lernen, die sie ursprünglich überliefern sollten (Bunkai), dann kannst du genauso gut Ballett machen. Jawohl. Kata ist ein bewährter randvoller Werkzeugkoffer mit duchschlagenden Lektionen in Gestalt einer Formvorlage für körperliche Bestleistungen, entwickelt, um dir auf der Straße den A**** zu retten! Verstanden?
Also habe ich mich entschlossen, heute ein kleines „Geheimnis“ mit dir zu teilen…
Darf ich vorstellen…
Die Bunkai-Blaupause
Ein einfaches Gerüst zur Anwendung der Techniken der Karate-Kata. (Ganz ohne die Kopfschmerzen.)
Weißt du, über die Jahre habe ich eine ganz einfache Formel entwickelt, um die Kata-Bewegungen zu verstehen. Ein Gedankenprozess oder Gerüst, wenn du so willst, um jede einzelne Bewegung einer Kata zu verstehen – ebenso wie deren praktische Anwendung in der Selbstverteidigung.
Diese Blaupause kannst du auf jede beliebige Kata aus jedem beliebigen Stil anwenden, solange du bereit bist, etwas Zeit, Mühe und Gehirnschmalz zu investieren.
Ich meine, klar, die ursprüngliche Bedeutung der meisten Kata ist im Laufe der Zeit verloren gegangen… Aber das heißt nicht, dass wir das Pferd nicht von hinten aufzäumen können!
Auf geht‘s!
Die Kern-Prämisse
Okay.
Der erste Teil der Bunkai-Blaupause besteht darin, die grundlegende Prämisse des traditionellen Karate zu verstehen – diese wird den Rest unseres Kata-Entdeckungsprozesses bestimmen.
Daher ist es höchst wichtig, sich mit der folgenden Kern-Prämisse vertraut zu machen und sie regelrecht zu verinnerlichen – da sie uns das kontextuelle Mindset liefert, auf der die Bunkai-Blaupause basiert.
Pass auf:
- Karate war ursprünglich für die körperliche Selbstverteidigung gedacht – meistens gegen einen einzelnen, untrainierten, wahrscheinlich rechtshändigen, stärkeren, unbewaffneten und aggressiven Gegner.
- Kata ist eine Gedächtnisstütze (ein Lernwerkzeug zur Speicherung und Übertragung von Informationen) – überliefert von den Gründern zu dem oben genannten Hauptzweck.
- Logischerweise müssen die Techniken der Kata daher auf den Prinzipien einer erfolgreichen Selbstverteidigung basieren. Wirkungsvolle Techniken, die einfach auszuführen, leicht zu üben und schnell zu erinnern sind – während sie gleichzeitig einen vorteilhaften Ausgang der Selbstverteidigungssituation für uns ermöglichen.
Die Kern-Prämisse, die, wenn du tiefer in die Worte eintauchst, eine Reihe von direkten (und indirekten) Implikationen mitbringt, solltest du als Marinade für das Fleisch der Bunkai-Blaupause betrachten – die deinem Verständnis der Kata in der nächsten Phase unserer tollen Bunkai-Grillparty einheizen wird.
Verstanden? Dann geht‘s weiter!
Die Hilfskonzepte
Also… Als praktische Erweiterung der Kern-Prämisse haben wir die Hilfskonzepte.
Auch wenn es viele wichtige Konzepte gibt, die man kennen sollte, werde ich hier nur drei von ihnen kurz vorstellen, angefangen mit den HAPV.
Die HAPV: Habituelle Akte körperlicher Gewalt
Das erste Hilfskonzept, das von Hanshi Patrick McCarthy erforscht, katalogisiert und verbreitet wurde, sind die HAPV – Habitual Acts of Physical Violence (deutsch: habituelle Akte körperlicher Gewalt). Anders gesagt, sind die HAPV eine Liste der 36 häufigsten Techniken im zivilen unbewaffneten Kampf.
Und zwar:
- Gerade Tritte
- Abgewinkelte Tritte
- Gerade Schläge
- Runde Schläge
- Abwärtsstöße
- Aufwärtsstöße
- Knie- und Ellbogenstöße
- Kopfstoß/Beißen & Spucken
- Quetschen der Hoden
- Beinstellen
- Haareziehen mit einer Hand/beiden Händen von vorn/hinten
- Würgen mit einer Hand/beiden Händen von vorn/hinten
- Würgen von hinten
- Klassischer Schwitzkasten
- Übergebeugtes Würgen von vorn
- Half-/Full-Nelson-Griff
- Bärenumklammerung von hinten (oder der Seite) über den Armen
- Bärenumklammerung von hinten (oder der Seite) unter den Armen
- Bärenumklammerung von vorn (oder der Seite) über den Armen
- Bärenumklammerung von vorn (oder der Seite) unter den Armen
- Packen von vorn/hinten
- Fassen eines Handgelenks mit einer Hand (seitenverkehrt & spiegelgleich)
- Fassen eines Handgelenks mit zwei Händen (normal & andersrum)
- Fassen beider Handgelenke von vorn/hinten
- Fassen beider Arme von vorn/hinten
- Fassen einer/beider Schultern von vorn/hinten
- Armhebel (hinter dem Rücken)
- Armhebel vorne
- Seitlicher Armhebel
- Einfaches/doppeltes Fassen am Revers
- Schubsen mit einer Hand/beiden Händen
- Kleidung über den Kopf ziehen
- Fassen & Angreifen
- Einfaches/doppeltes Fassen des Beins/Knöchels von vorn (von der Seite/hinten)
- Zu Boden drücken
- Angriff (Tritt/Schlag), während man am Boden liegt
Als nächstes habe ich ein paar Buchstaben aus dem Alphabet für dich.
Das ABCDE: Luft, Blut, Bewusstsein, Dislozieren, Flucht
Das Ziel angewendeten Karates sollte immer sein, unversehrt zu überleben. Nicht, den Gegner zu verletzen.
Auch wenn aufgrund der der Selbstverteidigung inhärente chaotische Natur ein solches Ergebnis nie garantiert werden kann, sollten wir danach streben, unsere Überlebenschancen zu maximieren, indem wir stets die folgenden menschlichen Strukturen angreifen:
- Air (Luft)
- Blood (Blut)
- Consciousness (Bewusstsein)
- Dislocation (Dislozieren)
- Escape (Flucht)
A: Luft (Air) bedeutet, dem Gegner die Luft abzuschneiden, zum Beispiel durch Würgen.
B: Blut bedeutet den Blutfluss unseres Gegners abzuschneiden. Das Blut transportiert Sauerstoff ins Gehirn und andere lebenswichtige Organe, das heißt, wenn wir es abdrücken (zum Beispiel durch Strangulation), verliert unser Gegner das Bewusstsein – schneller noch als beim Abschneiden der Luft.
C: Bewusstsein (Consciousness) bezieht sich auf das Ausknocken unseres Gegners, so dass er das Bewusstsein verliert. Ein starker Haken zum Kinn kann das bewirken, genauso wie ein Ellbogen- oder Kopfstoß auf die Schläfe. Hauptsache, man trifft.
D: Dislozieren ist ziemlich eindeutig – das bedeutet, wir setzen unseren Gegner außer Gefecht, ohne dass er/sie zwingend das Bewusstsein verliert (obwohl das in Folge des Schocks passieren kann, je nach Grad des Traumas). Vergiss nicht: Es braucht mehr als einen dislozierten Finger, um einen Angreifer zu stoppen.
E: Flucht (Escape) ist natürlich das ultimative Ziel bei der Selbstverteidigung. (Aber hey, wenn wir immer fliehen könnten, dann müssten wir das ganze Zeug hier ja gar nicht üben.)
Zu guter Letzt haben wir noch ein drittes wichtigs Hilfskonzept.
Und zwar…
Die menschliche Anatomie
Schau mal: Auch wenn es im Dojo durchaus Spaß macht, Kraft, Schnelligkeit oder Beweglichkeit zu unserem Vorteil zu nutzen, müssen wir immer davon ausgehen, dass ein Angreifer auf der Straße uns körperlich überlegen ist (und vielleicht auch mental abgehärtet) und das Überraschungsmoment auf seiner/ihrer Seite hat. Um die Erfolgsaussichten unserer Bunkai zu maximieren, müssen wir deshalb die Prinzipien der menschlichen Anatomie verstehen.
Der menschliche Körper steht im Fokus jeder unbewaffneten körperlichen Gewalt, egal, wo du lebst oder wer du bist, deshalb ist es wichtig, die menschliche Anatomie zu studieren, um zu lernen, wie die einzigartigen Strukturen und universellen anatomischen Schwachpunkte am besten ausgenutzt und angegriffen werden können, wenn wir mit einem HAPV konfrontiert werden, um das ABCDE mit unserer Bunkai zu erreichen.
Anders gesagt, wird ein rudimentäres Verständnis der Anatomie dir ermöglichen, schneller das zu erkennen, wofür andere jahrelang trainieren.
Zum Beispiel:
- Das optimale Ziel für jede Angriffs- und Verteidigungstechnik (Schritt, Augen, Rippen, Solar Plexus, Kehle, Knie usw.)
- Die optimale menschliche Waffe für die jeweilige Angriffs- und Verteidigungstechnik (Faust, Fuß, Ellbogen, Knie, Kopf, Fingerspitzen usw.)
- Das optimale Timing, der optimale Winkel, die optimale Richtung, Frequenz, Kombination, Intensität usw. für Angriffs- und Verteidigungstechniken (Taktik und Strategie).
Um dieses Wissen vollends zu deinem Vorteil zu nutzen, darfst du dich nicht mehr auf die traditionellen Label für Karate-Techniken verlassen.
Stattdessen musst du Techniken als label- und namenlose Bewegungen verstehen, weil ihre Anwendung von normaler Trefferwirkung über Fassen und Drücken in Kavitäten, das Manipulieren von Bindegewebe und das Überbeugen, Überstrecken und Überdrehen (Dislozieren) von Gelenken bis hin zum Abschneiden der Luft- und Blutzufuhr, dem Ausschalten neurologischer Strukturen und dem Angriff auf Druckpunkte etc. reichen kann.
Wenn du den menschlichen Körper kennst, verstehst du leichter, welche Technik wo und wie funktioniert – oder eben nicht funktioniert.
Und mit diesen grundlegenden Hilfskonzepten für unsere Kern-Prämisse sind wir nun bereit in den ersten praktischen Teil der Bunkai-Blaupause einzutauchen.
Jetzt ist es an der Zeit, deine Kata auszuwählen, sie zu zerlegen, zu analysieren und schließlich anzuwenden.
Fortsetzung folgt…
Text: Jesse Enkamp, aus dem Englischen übersetzt von Eva Mona Altmann
Über den Autor:
KARATEbyJesse ist vielen Karateka ein Begriff.
Dahinter verbirgt sich der Schwede Jesse Enkamp, Kata-Wettkampfathlet und Inhaber eines eigenen Dojos und einer eigenen Karate-Gi-Marke, der sich mit interessanten und gut recherchierten Artikeln zum Karate und angrenzenden Themenbereichen sowie mit ansprechenden Videos von Turnieren, Lehrgängen und Reisen sowie Trainingstutorials im Internet einen Namen gemacht hat.
Neben www.KARATEbyJesse.com, seinem Blog, betreibt er auch einen YouTube-Kanal und ist in den sozialen Medien sehr aktiv.
In der Vergangenheit waren seine Texte nur mit genügend Englischkenntnisse zugänglich. Aber mit freundlicher Genehmigung des Autors erscheinen seit Mitte 2014 ausgewählte Artikel in der deutschen Übersetzung von Eva Mona Altmann (Dipl.-Übers.) beim KDNW.
Wir freuen uns sehr über diese grenz- und sprachübergreifende Kooperation mit Jesse Enkamp!
(ema)