KARATEbyJesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 3)

KARATEbyJesse

Ein einfaches Gerüst zur Anwendung der Karate-Kata in der Selbstverteidigung

Bunkai sollte einfach sein. Das ist meine Philosphie, wenn es darum geht, die Techniken einer Kata anzuwenden. Aber trotzdem tun sich viele Leute schwer damit.

Im ersten Teil haben wir uns mit der Kern-Prämisse und den grundlegenden Hilfskonzepten befasst. Im zweiten Teil mit Bunkai (Zerlegen) und Bunseki (Analyse) der Kata. Im dritten und letzten Teil geht es jetzt um Oyo.

Oyo – wende die Kata an

Beobachtung: Die meisten Menschen fangen bei ihrer Suche nach der Bunkai am falschen Ende an. Sie bitten einen Partner darum, sie anzugreifen und hoffen darauf – Daumen drücken! –, eine Bewegung aus der Kata anwenden zu können. Gemäß der Bunkai-Blaupause allerdings kommt dieser Schritt erst ganz am Schluss. Du machst das jetzt, mit einem soliden Verständnis für die tatsächlichen Bewegungen, die du anwenden möchtest und wie du sie am besten anwenden kannst. Auf Japanisch sagt man: „honmatsu tentou“ (spann den Karren nicht vor das Pferd).

Jetzt: Ran an den Partner!

Jetzt schnappen wir uns einen Partner und legen los! Hier kommen ein paar wichtige Überlegungen für die Oyo (jap. „Anwendung“):

  • Beginne aus einer natürlichen Selbstverteidigungsposition heraus. Keine erhobene Deckung wie beim Boxen. Keine Kranichstellung. Das ist Selbstverteidigung, schon vergessen? Falls ja, lies dir noch einmal die Kern-Prämisse durch. Der Gegner kann von links, von rechts oder von hinten kommen. Nicht von vorne. Gehe niemals von der luxuriösen Ausgangslage eines fairen Duells von Angesicht zu Angesicht aus.
  • Du kennst bereits deine eigene Bewegung. Aber du kennst nicht die Bewegung des Angreifers. Also teste deine Bunkai gegen viele verschiedene Angriffe. Einen Griff. Einen Schlag. Einen Griff und einen Schlag. Einen Doppelgriff. Schubsen, Schlag, Doppelgriff. Ohrfeige. Du findest ziemlich schnell heraus, welcher der HAPV-Angriffe zu deiner Bewegung passt. Denk an die Hilfskonzepte.
  • Dein Gegner muss auf deine Techniken reagieren. Tritt in den Schritt? Nach vorne beugen. Fingerstoß in die Augen? Zurückweichen. Diese vorgegebenen biologischen Antworten bestimmen die Erfolgsrate deiner Techniken. Deshalb ist es wichtig, dass dein Trainingspartner „mitspielt“. (Die Alternative wäre, dass du durchziehst.) Er braucht also auch ein Verständnis der menschlichen Anatomie.
  • Aber dein Gegner ist nicht Bruce Lee. Wenn deine Verteidigung auf einer festgelegten Kombination von Angriffen/Schritten/Blocks deines Gegners basiert, stimmt etwas nicht. Trotzdem sollten deine Techniken die vorbestimmten physiologischen Reaktionen, mit denen dein Gegner dem Schmerz ausweicht, zum Vorteil nutzen. Sonst ist das Szenario nicht realistisch. Aber triff darüber hinaus keine Vorhersagen.
  • Kata haben keine „versteckten“ Techniken. Techniken können sich aber je nach Umständen verändern (z.B. Umgebung, Reaktion des Gegners, Kampfgeist etc.). Mit anderen Worten: Du solltest jederzeit auf eine taktische Kehrtwende vorbereitet sein. Wie Funakoshi Gichin, der Gründer des Shotokan-Karate, einmal sagte: „Eine Kata exakt auszuführen ist das eine, ein realer Kampf ist etwas anderes.“
  • Passiver oder aktiver Widerstand? Vielleicht funktioniert die Technik gut an deinem Freund im Dojo, der nur passiven Widerstand gegen dich leistet. Aber wie schaut es mit jemandem aus, der sich aktiv wehrt? Das ist nochmal etwas ganz anderes! Plötzlich wird ein lauter Kiai dann wichtiger als je zuvor.

Das war‘s schon!

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Auf Anfang: Neuer Zyklus

Wenn du erstmal den Dreh raus hast beim Oyo und deine Sequenz erfolgreich gegen einen moderat aggressiven Gegner anwenden kannst, fang mit einem neuen Zyklus Bunkai/Bunseki/Oyo aus der gleichen Kata an, bis du sie komplett dechiffriert hast.

Aber es wäre natürlich dumm, jedes Mal wieder bei Null anzufangen! Was du in den verschiedenen Phasen (Bunkai/Bunseki/Oyo) bereits gelernt hast, solltest du in den nächsten Zyklus mitnehmen, in Form von Prinzipien, die dir als fortlaufende Grundlage für deinen Fortschritt dienen.

Techniken variieren zwischen Katas, Stilen, Meistern und Schulen. Es ist unmöglich, jemals sicher zu wissen, dass unsere Bunkai/Kata/Techniken „richtig“, „original“ oder „am besten“ sind. Aber Prinzipien ändern sich nicht. Sie sind universell. (Sonst wären es ja keine Prinzipien.) Und wenn du einmal diese Kampf-Prinzipien entschlüsselt hast, wirst du schneller Bunkai ausspucken als du sagen kannst: „Funakoshis fantastischen Falafel-Freunde“.

Und jetzt… Da gibt es noch eine letzte Sache, bevor die Bunkai-Blaupause komplett ist.

Eine Vitaminspritze für alle Fälle

Wie der Name schon sagt, ist eine Vitaminspritze eine Inspirations-, Informations und Motivationsquelle, wenn du mal feststeckst. Und glaub mir: Du wirst feststecken!

Schau dir andere Kampfkünste an: Was machen die? Was kannst du daraus lernen?

Schau dir andere historische Variationen deiner Kata an. Was kannst du daraus lernen? (Z.B. Bassai Dai, Bassai Sho, Matsumai Passai, Tomari Passai etc.)

Schau dir die gleiche Kata in anderen Stilen an. Gibt es, abgesehen vom Namen, Gemeinsamkeiten? (Z.B. gibt es die Kata Seisan im Shito-Ryu, Goju-Ryu, Uechi-Ryu, Isshin-Ryu, Shotokan [hier heißt sie Hangetsu], Shorinji-Ryu, Wado-Ryu etc.) Was kannst du aus dem Vergleich lernen?

Nutze Medien wie YouTube, Bücher, Videos, DVDs, Blogs oder Online-Foren. Ruf deinen Sensei an, frag jemanden, der woanders trainiert, frag jemanden, der sonst nichts trainiert. Wie würden sie es machen? Denk um die Ecke!

Füge schmutzige Techniken hinzu. Unkonventionelle Methoden. Beißen. Augenquetschen. Spucken. Angelhaken (z.B. mit den Finger in den Mund greifen). Dreh es so, dass es funktioniert. Wenn es einen kleinen Kniff gibt, der dir hilft, nutze ihn. Wir haben sowieso keine Ahnung, wie die originale Bewegung einmal aussah – 10% Interpretationsspielraum für Experimente ist daher in Ordnung. Aber versuch nicht, ein Kamel durchs Nadelöhr zu quetschen!

Stell deine Annahmen alle in Frage. Lies die Kern-Prämisse nochmal. Interpretierst du etwas falsch? Lies die Hilfskonzepte nochmal. In welchem Bereich musst du dir mehr Wissen aneignen? Sei ehrlich zu dir. Find es heraus. Versuche es nochmal.

Tu so, als seist du ein Anfänger. Wie würdest du die Sache dann angehen?

Tu so, als seist du Bruce Lee. Wie würdest du die Sache dann angehen?

Schick mir eine E-Mail und bitte mich um Hilfe.

Lies alles nochmal. Und nochmal. Schlaf drüber. Usw.

Alles, was dich zusätzlich stimuliert, ist eine Vitaminspritze.

Und mit diesen Worten schließe ich meine kurze Präsentation der Bunkai-Blaupause ab. Ein einfaches Gerüst zur Anwendung der Karate-Kara in der Selbstverteidigung.

Was meinst du? Cool? Nützlich? Nerdy? Die Bunkai-Blaupause ist ein fortlaufendes Projekt – Work in Progress. Deshalb freue ich mich über dein Feedback. War irgendwas unklar? Meld dich bei mir!

Wie sagte Kenwa Mabuni (Gründer des Shito-Ryu): „Kata ist kein schöner Wettkampftanz, sonder eine große Kampfkunst zur Selbstverteidigung – die über Leben und Tod entscheidet.”

Text: Jesse Enkamp, aus dem Englischen übersetzt von Eva Mona Altmann
Bild, Foto: Enkamp

KARATEbyJesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 1)…

KARATEbyJesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 2)…


Über den Autor:

KARATEbyJesse ist vielen Karateka ein Begriff.

Dahinter verbirgt sich der Schwede Jesse Enkamp, Kata-Wettkampfathlet und Inhaber eines eigenen Dojos und einer eigenen Karate-Gi-Marke, der sich mit interessanten und gut recherchierten Artikeln zum Karate und angrenzenden Themenbereichen sowie mit ansprechenden Videos von Turnieren, Lehrgängen und Reisen sowie Trainingstutorials im Internet einen Namen gemacht hat.

Neben www.KARATEbyJesse.com, seinem Blog, betreibt er auch einen YouTube-Kanal und ist in den sozialen Medien sehr aktiv.

In der Vergangenheit waren seine Texte nur mit genügend Englischkenntnisse zugänglich. Aber mit freundlicher Genehmigung des Autors erscheinen seit Mitte 2014 ausgewählte Artikel in der deutschen Übersetzung von Eva Mona Altmann (Dipl.-Übers.) beim KDNW.

Wir freuen uns sehr über diese grenz- und sprachübergreifende Kooperation mit Jesse Enkamp!

(ema)

Die nächsten Termine:

april

27apr10:0014:00Prüfer:innenlehrgang Wado-RyuDüsseldorf, Turnhalle Brehmschule

28apr10:0018:00Landesmeisterschaft Jugend, Junior:innen, u21Oberhausen, Willi Jürissen Halle

mai

04mai10:0022:00Cologne OpenKöln, Gesamtschule Stresemannstraße

10mai(mai 10)19:3011(mai 11)7:30Krefelder Kata-NachtKrefeld-Zentrum

11mai16:3017:30Mitgliederversammlung der Stilrichtung GOJU-Ryu im KDNWKamen, Schulzentrum, Halle 2, erstes Drittel

18mai10:0014:00SOK-Lehrgangsreihe SelbstverteidigungBottrop, Grundschule Schürmannstraße, Zugang über Straße Lichtenhorst

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