Es ist schon verrückt! Du hältst es wochenlang ohne Nahrung aus. Du kannst tagelang aufs Trinken verzichten. Aber ohne zu atmen, schaffst du es nicht mal Minuten! Dennoch widmen die meisten von uns dem Essen und Trinken mehr Aufmerksamkeit als der Atmung.
Tatsächlich achten viele Menschen sogar mehr auf ihre Kleidung als auf ihre Atmung. Warum? Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
1. Die Menschen sind sich ihrer Atmung nicht bewusst.
Das ist ganz natürlich, denn müssten wir uns bewusst anstrengen zu atmen, würden wir sterben, sobald wir es vergessen. Deshalb hat Mutter Natur entschieden, unser Atemschema lieber zu automatisieren. Aus evolutionärer Sicht ergibt das Sinn. Aber das bedeutet eben auch, dass wir oft unsere Atmung ignorieren, da sie keine bewusste Handlung ist.
2. Die Menschen wissen nicht, wie man richtig atmet.
Okay. Mal angenommen, du schaffst es, aus deinem gewohnten Atemschema auszubrechen und lernst, deine Atmung zu beobachten. Und dann? Sollst du jetzt anders atmen? Ist deine Atmung gut oder schlecht? Sollst du durch die Nase atmen? Durch den Mund? Die Ohren? Du weißt es nicht. Also gibst du auf und kümmerst dich stattdessen lieber darum, welches Outfit du heute anziehst.
Hör mir mal zu… Atmen ist essenziell für das Leben. Und du weißt ja, dass Karate ein Lebensweg ist.
Die Atmung zu verstehen, bedeutet Karate zu verstehen.
Sie ist eine direkte Verbindung zwischen deinem Körper und deinem Geist.
„Um deine Seele zu harmonisieren, musst du deine Atmung harmonisieren“, so Mabuni Kenei.
Dieses Phänomen wurde schon am Anbeginn der Menschheit entdeckt und hat eine Fülle von ganzheitlichen Atemübungen hervorgebracht, wie Yoga, Tai Chi und Qi Gong.
Aber ganz egal, welche esoterische „Atemmethode“ du anwendest, sie alle basieren auf ein und derselben grundlegenden menschlichen Wahrheit: Die Atmung ist der Pfad zwischen Gehirn und Körper.
Die Atmung ist eine direkte Verbindung zwischen dir und deinem Selbst.
Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die großen Karate-Meister in der Geschichte immer auch Atemübungen in ihren Unterricht eingeschlossen haben.
An diesem Punkt entstehen immer wieder Missverständisse…
Sobald die Leute die Bedeutung der Atmung bergreifen, suchen sie nach „der besten“ Atemmethode. Großer Fehler. Es gibt keinen richtigen Weg zu atmen. Sorry, dass ich deine Illusion zerstöre! Es gibt nicht den einen richtigen Weg zu atmen! Es gibt auch nicht den einen falschen Weg zu atmen… Aber du musst immer atmen!
Also… Wenn es eine Sache gibt, die du aus diesem Artikel mitnimmst, dann diese. Atme. Atme einfach. Und atme immer weiter.
Die Luft anzuhalten, ist einer der zehn häufigsten Fehler beim Karate.
Davon abgesehen, gibt es verschiedene Wege zu atmen.
Zum Abschluss dieses Artikels möchte ich dir vier effektive Wege der Atmung zeigen, die ich von Sensei Vinicio Antony in Brasilien gelernt habe. Sensei Vinicio ist ein Karate-Genie, der traditionelle Karate-Konzepte mit modernen Trainingsmethoden kombiniert. Für mich ist er einer der größten Karate-Experten, der mir je begegnet ist.
Vier Atemmethoden
Du lernst hier vier grundlegende Wege, wie du dein Ein- und Ausatmen mit dem Ausdehnen und Zusammenziehen synchronisieren kannst. Diese Atemmethoden halte ich für äußerst effektiv.
Stretching für das Innere
Der nächste Schritt für dich ist jetzt, die unterschiedliche Atemschemata in deine Karate-Techniken zu integrieren. Dabei kann dir dein Sensei bestimmt helfen.
Vergiss nicht: der Schlüssel ist nicht, wie du atmest – sondern dass du atmest!
Fange damit an, deine Atmung zu beobachten. Nach und nach färbt diese Gewohnheit auf andere Lebensbereiche ab und macht dich allgemein zu einem achtsameren Menschen – besser als immer nur ein Opfer der Umstände zu sein. Am Anfang von allem steht die Atmung…
„Atme das Gute ein, atme den blöden Mist aus.“ Viel Glück dabei!
Text: Jesse Enkamp, aus dem Englischen übersetzt von Eva Mona Altmann
Fotos: Jesse Enkamp
Über den Autor:
KARATEbyJesse ist vielen Karateka ein Begriff. Dahinter verbirgt sich der Schwede Jesse Enkamp, Kata-Wettkampfathlet und Inhaber eines eigenen Dojos und einer eigenen Karate-Gi-Marke, der sich mit interessanten und gut recherchierten Artikeln zum Karate und angrenzenden Themenbereichen sowie mit ansprechenden Videos von Turnieren, Lehrgängen und Reisen sowie Trainingstutorials im Internet einen Namen gemacht hat. Neben der Webseite www.KARATEbyJesse.com betreibt er auch einen YouTube-Kanal und ist in den sozialen Medien vertreten. In der Vergangenheit waren seine Texte nur mit genügend Englischkenntnisse zugänglich. Aber mit freundlicher Genehmigung des Autors erscheinen seit Mitte 2014 ausgewählte Artikel in der deutschen Übersetzung von Eva Mona Altmann (Dipl.-Übers.) beim KDNW. Nach einer kleinen Unterbrechung setzen wir die Reihe nun fort. Wir freuen uns sehr über diese grenz- und sprachübergreifende Kooperation mit Jesse Enkamp!
(ema)