KARATEby Jesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 2)

KARATEbyJesse

Ein einfaches Gerüst zur Anwendung der Karate-Kata in der Selbstverteidigung

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Bunkai sollte einfach sein. Das ist meine Philosphie, wenn es darum geht, die Techniken einer Kata anzuwenden. Aber trotzdem tun sich viele Leute schwer damit.

Im ersten Teil haben wir uns mit der Kern-Prämisse und den grundlegenden Hilfskonzepten befasst. Jetzt sind wir bereit, in den praktischen Teil der Bunkai-Blaupause einzutauchen. Wähle deine Kata aus, zerlege sie, analysiere und wende sie an.

Bunkai – zerlege die Kata

Das Wort „Bunkai“ – das auf Japanisch wörtlich „zerlegen“ bedeutet – wird oft für den ganzen Prozess des Zerlegens, Analysierens und Anwendens der Techniken einer Karate-Kata benutzt. Und für den Durchschnittskarateka ist das ja auch okay. Tatsächlich aber ist Bunkai nur der erste praktische Schritt, um die Geheimnisse der Kata zu entschlüsseln (vor dem theoretischen Hintergrund der Kern-Prämisse und der Hilfskonzepte) – bevor es mit Bunseki („Analysiere die Kata“) und Oyo („Wende die Kata an“) weitergeht, um den Kreis der Bunkai-Blaupause zu schließen. Bunkai oder das „Zerlegen“ der Kata ist also nur die Grundlage bzw. Vorarbeit.

Die Fragen in der Bunkai-Phase lauten:

  • Hat meine Kata überhaupt coole Anwendungen? Manche Kata wurden nur zu Körperertüchtigung von Kindern mittels Karate-Bewegungen entwickelt. In diesen Fällen hat die Form Vorrang vor der Funktion. Andere Kata wurden mit einer spezifischen Zielvorgabe entwickelt, z.B. Atmung und Bewegung miteinander in Einklang zu bringen. Mit anderen Worten: Wähle deine Kata mit Bedacht! Oder wie mein Kollege Iain Abernethy einmal sagte: „…immer wieder auf einen Sandsack einzuschlagen, kann förderlich für die Gesundheit sein. Aber Schläge sind nicht dazu gedacht, deine Gesundheit zu verbessern, sondern die Gesundheit anderer zu verschlechtern.“ Das gleiche gilt für Kata. Such dir also eine gute Kata aus.
  • Wie sind die verschiedenen Sequenzen (Kombinationen/FRE [Funktionale Rhythmus-Einheiten] der Kata unterteilt? Nachdem wir uns eine Kata ausgesucht haben, müssen wir sie zerlegen („Bunkai“). Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei eine Kata nichts anderes als eine lange Abfolge von Einzeltechniken, aber tatsächlich gibt es innerhalb der Kata kürzere Technikkombinationen, die zusammengehören (meist 1-5 Techniken). Wir können hier von Verteidigungsvorlagen sprechen oder, um die wissenschaftliche Terminologie von Dr. Lucio Maurino zu benutzen, von Funktionalen Rhythmus-Einheiten (FRE), auf Englisch „Functional Rhythm Units (FRU)“. Wenn du dir den Rhythmus der Kata anschaust, findest du leicht diese Verteidigungsvorlagen. Dies ist sehr wichtig – wenn du Anfang und Ende der einzelnen Bunkai falsch wählst, ergeben die folgenden Schritte nämlich keinen Sinn.
  • Welche dieser kürzeren Kombinationen scheint die am leichtesten zu entschlüsseln? Wenn du mit der einfachsten Kombination beginnst, verschafft dir das den nötigen Kontext, um später auch die schwierigeren Passagen zu entschlüsseln. Kleiner Tipp: Anfang und Ende (also die erste und letzte Sequenz der Kata) sind oft die beste Wahl. Weil hier Anfang oder Ende schon klar gesetzt sind, sparst du dir etwas Hirnschmalz.

Wie du siehst, zieht jede dieser Fragen neue Fragen nach sich, aber die Hauptidee ist, der Definition des Wortes „Bunkai“ zu folgen und die ganze Kata für die folgenden Analyse in gut zu händelnde Teilstücke zu zerlegen.

Bunseki – analysiere die Kata

Okay. Wenn du dir ausgesucht hast, mit welchem Teil der Kata du beginnst, vergiss den Rest erstmal und fokussiere dich nur darauf. 168 verschiedene Anwendungen einer Technik zu kennen, nützt wenig, wenn du nicht weißt, warum sich eine Technik an genau diesem Punkt der Kata befindet – und genau das wollen wir jetzt herausfinden. Starten wir als mit der Analyse („Bunseki“ auf Japanisch).

Wir machen weiter mit unserem neugieren Ansatz (stellen uns selbst also immer mehr Fragen) und schauen uns die erste Bewegung der bis zu fünf Bewegungem unserer ausgewählten Sequenz an und fangen dabei mit den Beinen (dem Fundament) an, weil diese direkt beeinflussen, wie unser Oberkörper funktioniert.

Beispiele für logische Fragen:

  • Stand: Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung erfüllen Stände einen wichtigen Zweck. Aber mehr in Bezug auf die relative Position (und den vorangegangenen/folgenden Übergang) deines Körpergewichtes als in Hinblick z.B. darauf, wieviel Grad der Winkel deines Zehs haben sollte. Also stell dir folgende Fragen: Wo ist mein Körperschwerpunkt? Vorne (Zenkutsu-Dachi)? Hinten (Kokutsu-Dachi)? Mittig (Shiko-Dachi/Kiba-Dachi/Nekoashi-Dachi)? Auf einem Bein (Tsuru-Ashi-Dachi)? Nahkampfstellung (Sanchin-Dachi)? Usw. Warum ist das so? Wie würde ein Stellungswechsel die Wirkung der Technik beeinflussen? Keine Stellung ist grundlos gewählt.
  • Bewegung: In welche Richtung bewegst du dich? Auf den Gegner zu oder von ihm weg? Ist die erste Bewegung defensiv oder offensiv? Richtung und Stand geben dir Aufschluss darüber! Wenn es sich um eine Drehung handelt: Bewegst du das vordere oder hintere Bein? Warum? Es gibt einen Grund dafür! Machst du einen Schritt oder gleitest du? Springst du oder tauchst ab? Stehst du still? Warum? Könnte sich in einem Schritt ein Tritt verstecken, ein Kniestoß, ein Schienbeinblock oder sogar ein Feger? Letztlich sind alle Bewegungen nur ein Mittel, um deine Masse (oder einen Teil davon) in eine Richtung zu übertragen. Überlege dir, warum und wie. Veränderst du eine Bewegung, kann sich die Wirksamkeit deine Technik verändern.
  • Interaktion von Unter- und Oberkörper: Bevor wir uns dem Oberkörper widmen, frage dich: Passt deine Idee für den Oberkörper (Arme/Hände/Techniken) zu deinen Schlüssen in Bezug auf den Unterkörper (z.B. Stand, Bewegung, Richtung, Gewichtsverteilung)? Wenn nicht, dann überlege noch mal, was genau die Arme/Hände machen und wie Ober- und Unterkörper miteinander interagieren. Sie sollten als Einheit funktionieren.
  • Hände: Sind deine Hände offen oder geschlossen? Offene Hände können auf das Lösen eines Griffs hindeuten. Geschlossene Hände können für ein Fassen oder einen Hebel stehen. Achte besonders auf deine „passive“ Hand. Denn es gibt keine passive Hand. Beide Hände verfolgen einen Zweck, ebenso wie beide Beine. Ist deine Hand an der Hüfte? Ist sie am Kopf? Ist sie irgenwie komisch verdreht? Warum? Manchmal erscheint eine Hand passiv, dabei verteidigt sie dein Zentrum oder hat einen Angriff abgewehrt (während deine „aktive“ Hand beschäftigt ist) – aber eine Bedeutung gibt es immer. Hält deine „passive“ Hand etwas? Ist sie offen oder geschlossen? Hat sie sich aus einem Griff befreit? Bereitet sie etwas vor? Hält sie den Gegner? Ziehe verschiedene Optionen in Erwägung.
  • Tempo: Ist die Bewegung schnell oder langsam? Verändert sich der Rhythmus während der Bewegung? Langsame Bewegungen können für Pressen, Gelenkhebel oder Haltegriffen stehen, während schnelle Bewegungen eher direkte Angriffe, Ausbrüche, Würfe/Feger und Blocks symbolisieren. Es gibt einen Grund dafür, warum bestimmte Techniken immer langsam und andere immer schnell ausgeführt werden.
  • Versteckte Bewegungen: Wechsel deine Perspektive. Ist das Hikite (Zurückziehen der Hand) oder eigentlich ein Ellbogenstoß nach hinten? Ist der Schritt vielleicht ein Kniestoß? Ist die Drehung vielleicht ein Wurf? Ist das Vorbeugen vielleicht ein Kopfstoß? Oder eine Po-Stoß? Versuche hinter die Fassade zu blicken!

Und so weiter.

Einfache Fragen wie diese werden zu neuen Fragen führen – und das ist fantastisch, weil du diese Herangeensweise für jede einzelne Technik deiner Bunkai benötigst, bis du alle logischen Möglichkeiten analysiert hast. Was für ein Spaß!

Jetzt, wo du eine ungefähre Ahnung davon hast, was du da eigentlich tust (Bunkai – zerlege die Kata), und warum (Bunseki – analysiere die Kata), wollen wir herausfinden, wie du es tun kannst – indem wir eine:n Partner:in in die Gleichung mit aufnehmen (Oyo – wende die Kata an).

KARATEbyJesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 1)…

KARATEbyJesse: Die Bunkai-Blaupause (Teil 3)…

Text: Jesse Enkamp, aus dem Englischen übersetzt von Eva Mona Altmann
Bild, Foto: Jesse Enkamp


Über den Autor:

KARATEbyJesse ist vielen Karateka ein Begriff.

Dahinter verbirgt sich der Schwede Jesse Enkamp, Kata-Wettkampfathlet und Inhaber eines eigenen Dojos und einer eigenen Karate-Gi-Marke, der sich mit interessanten und gut recherchierten Artikeln zum Karate und angrenzenden Themenbereichen sowie mit ansprechenden Videos von Turnieren, Lehrgängen und Reisen sowie Trainingstutorials im Internet einen Namen gemacht hat.

Neben www.KARATEbyJesse.com, seinem Blog, betreibt er auch einen YouTube-Kanal und ist in den sozialen Medien sehr aktiv.

In der Vergangenheit waren seine Texte nur mit genügend Englischkenntnisse zugänglich. Aber mit freundlicher Genehmigung des Autors erscheinen seit Mitte 2014 ausgewählte Artikel in der deutschen Übersetzung von Eva Mona Altmann (Dipl.-Übers.) beim KDNW.

Wir freuen uns sehr über diese grenz- und sprachübergreifende Kooperation mit Jesse Enkamp!

(ema)

Die nächsten Termine:

april

27apr10:0014:00Prüfer:innenlehrgang Wado-RyuDüsseldorf, Turnhalle Brehmschule

28apr10:0018:00Landesmeisterschaft Jugend, Junior:innen, u21Oberhausen, Willi Jürissen Halle

mai

04mai10:0022:00Cologne OpenKöln, Gesamtschule Stresemannstraße

10mai(mai 10)19:3011(mai 11)7:30Krefelder Kata-NachtKrefeld-Zentrum

11mai16:3017:30Mitgliederversammlung der Stilrichtung GOJU-Ryu im KDNWKamen, Schulzentrum, Halle 2, erstes Drittel

18mai10:0014:00SOK-Lehrgangsreihe SelbstverteidigungBottrop, Grundschule Schürmannstraße, Zugang über Straße Lichtenhorst

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