Haki Celikkol:
“Schon Anfang der 80er Jahre, als ich mit Karate begann, lernte ich von meinem Meister Hakkɪ Koșar (8. Dan), dass das White Crane Kung Fu die historische Wurzel des Karate ist. Seitdem sind kaum mehr als 150 Jahre vergangen. Das wollte ich wissen: wie sieht diese Wurzel heute aus? Was hat sich im Verlaufe der Zeit geändert, wurden auch neue Techniken entworfen? Und weiter: warum gibt es in der Karatewelt so viele verschiedene Ausführungen und Stile, wenn alle hauptsächlich auf der einen Basis des White Crane entstanden sind?
Zunächst ist zu sagen: es gibt nicht nur ein White Crane. Aber wo sollte die Suche beginnen? Der Ort, an dem es begann, heißt Yong Chun, und dieser war als erstes Ziel schnell gefunden. Hier gibt es z.B. ein Museum, in dem die Geschichte des Bai He Quan, des White Crane Kung Fu in zahlreichen Dokumenten aufbewahrt wird sowie eine Statue im Zentrum der Stadt – Yong Chun ist wahrhaftig die Stadt des weißen Kranichs. Das zweite Ziel: herausfinden, wer an diesem Ort bis heute weitgehend unverändert den Stil zeigt. Zum Glück gab es prominente Hilfe: im Jahr 2009 hielt sich Morio Higaonna in Yong Chun auf und besuchte ein ganz bestimmtes Dojo (chinesisch: Wu Shu Guan) – das Ong Gong Ci Wu Shu Guan, in dem der Meister (Shifu) Pan Cheng Miao lehrt. Da ich darüber hinaus jemanden kannte, der genau dort trainiert hatte und Pan Shifu kannte, wurde es leichter: wir nahmen Kontakt auf – und dann konnte es losgehen.
Zwei Wochen lang übten wir 4 Stunden am Tag; in 8 Tagen lernten wir die drei grundlegenden Katas (Tao Lun), deren Techniken die Basis für alles Nachfolgende sind und die man uns für die weitere tägliche Übung ans Herz legte. An den restlichen Tagen lernten wir eine 4. Kata und hatten außerdem ein wenig Gelegenheit, uns in der Umgebung umzusehen. Vieles war ungewohnt, und seien es nur solche Kleinigkeiten wie die, dass man das White Crane Kung Fu in ganz normaler Kleidung und mit Schuhen übt; die Anzüge, die jedes Wu Shu Guan in ähnlichem und doch individuellem Aussehen hat, sind eine Art Festkleidung, die man nur zu besonderen Anlässen trägt.
In Yong Chun gibt es eine Vielzahl von Clubs und jeder hat einen eigenen Stil. Es gibt sogar Leute, die zu keinem Club gehören und eigene Tao Lun üben – und so eben auch einen eigenen Stil haben und öffentlich vertreten. Wir hatten das Glück, fast alle örtlichen Clubs kennen zu lernen und zwar im Rahmen einer Veranstaltung in dem o.g. Museum. Dort werden regelmäßig Abende abgehalten, um der Öffentlichkeit das Kung Fu als Teil der eigenen Historie näher zu bringen. Wir konnten Vertreter der anderen Wu Shu Guans sehen und die Art, in der sie sich bewegen – und waren froh, zu sehen, dass wir in Bezug auf Art und Ausführung der Techniken am richtigen Ort angekommen waren.
Was hat uns die Auseinandersetzung mit dem Bai He Quan gebracht? Haben wir besondere Techniken gelernt, die uns stärker/wehrhafter/weiser machen? Das sicher nicht. Was es hier gibt, gibt es im Karate auch. Dennoch haben wir viel Nützliches gelernt. In Karate Katas gibt es immer wieder Unklarheiten bezüglich des Bunkais, der Anwendung der Techniken. Jetzt konnten wir sehen: im Karate wurden die ursprünglichen Techniken des Bai He Quan offenkundig in Einzelteile zerlegt. Über die Gründe hierfür kann man nur mutmaßen. Aber derjenige, der durch Raum und Zeit von dem Begründer seines Stils entfernt ist, hat oft kaum eine Chance, zu verstehen. Mit Blick auf die vollständigen Techniken lässt sich aber manche Ungereimtheit auflösen. Ein Beispiel hierfür: Morote Uke. Der Bewegungsablauf ist mit der im Karate gewohnten Ausführung durchaus nicht zu Ende. Im Karate wird die Technik verstanden als eine einzelne Abwehr, und man ergänzt diese durch einen wie auch immer passenden oder weniger passenden Schlag – die eigentliche Abwehr wird dadurch meist nicht sinnhaft verstehbar. Gleiches gilt für Manji Uke. Diese Technik erscheint im White Crane in leicht anderer Körperhaltung, welche die Antwort auf die Frage “was mache ich da eigentlich” unmittelbar beantwortet. Die Ideen in den überlieferten Bruchstücken kann eben nur der Begründer eines Stils verstehen: derjenige, der – vielleicht der besseren Lehrbarkeit wegen – Bewegungsabläufe in kürzere Sequenzen unterteilte, der eine Brücke schlagen musste schon alleine zwischen der Chinesischen Sprache und der Japanischen usw. Natürlich kann man die Techniken aus den Karate-Stilen auch einfach so nehmen und einer Situation anpassen. Aber zu wissen, wo eine Technik herkommt, wie sie aussah und gedacht war – dann macht der freie Umgang damit erst richtig Spaß.
Pan Shifu sagte: “Lerne Bai He Quan und mache daraus, was du möchtest. Wende es an, wie du denkst.” Er und sein Sohn Pan Qiong Qi gaben uns für jede Technik eine Idee und dann sagten sie: “denke, was du damit noch machen kannst”. Auf die korrekte und sehr präzise Ausführung achteten beide sehr, jede Technik war in Bezug auf Form, die Position im Verhältnis zum Körper sehr klar definiert; auch die Körperhaltung sowie die Positionen von Beinen und Füßen wurden peinlich genau korrigiert, und auf die korrekte Bewegungsausführung viel Zeit verwendet. Auf diese Weise erreicht man, dass die Anwendung sehr kreativ möglich ist, aber niemals beliebig wird!
Die Techniken des White Crane sind so verständlich, so einfach, so durchsichtig und dabei so reichhaltig, dass jeder nach überschaubarer Zeit daraus einen neuen Stil entwerfen kann. Es ist reich an Prinzipien, die unmittelbar sichtbar und einleuchtend sind. Es ist also kein Wunder, dass so viele Menschen so viele verschiedene Stile hieraus entwickelt haben! Man muss sich nicht ärgern über diese Leute, die Techniken geändert und ihre eigene Kunst entwickelt haben. All die Änderungen und neuen Stile sind akzeptabel und leicht hinzunehmen; wenn man eine Zeit lang White Crane übt, bekommt man eine Menge eigener Ideen und nach einer Weile das Bedürfnis, diese auch zu verwirklichen – die Übung, die eigentliche Arbeit regt die eigene Kreativität im Umgang mit den Prinzipien an.
Müssen alle Karateka jetzt White Crane Kung Fu lernen? Man könnte sogar fragen, wozu man überhaupt Karate lernen soll – und nicht gleich White Crane Kung Fu. Dazu ist folgendes zu sagen:
Nur, weil es die Wurzel der Karate ist, ist das Bai He Quan nicht die bessere Kampfkunst, nicht das Non-plus-Ultra. Man kann nicht sagen: ich lerne jetzt mal den Ursprung, und das ist dann besser als alles, was sich daraus entwickelt hat. Eher verhält es sich so, dass die Kenntnis der Wurzeln uns dabei hilft, das, was wir tun, besser zu verstehen. Es ist immer schwer, Empfehlungen auszusprechen. Wer intensiv lernt und Karate und White Crane nebeneinander übt, wird seinen Weg damit finden. Ob man beides macht, liegt nicht nur an den Fähigkeiten, die ein Mensch mitbringt, sondern auch an seinen Vorlieben, an seinen Vorstellungen und Absichten. Karate und White Crane Kung Fu sind wie Teile eines ganzen Puzzles, kein Teil ist besser als das andere, sie ergänzen sich gegenseitig. Wie groß man puzzeln möchte, hängt von vielen Faktoren ab, die jeder für sich entscheiden muss.”
Text und Fotos: Haki Celikkol