Trainingslehre: Über die Schwierigkeit, das rechte Maß zu finden (Teil 1 von 2)

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“

Paracelsus: „Die dritte Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte.“ In: Septem Defensiones 1538. Werke Bd. 2, Darmstadt, 1965, S. 519.

Diese Weisheit des Paracelsus ist mitteweile 500 Jahre alt. Das Ringen um das rechte Maß begleitet die Menschen, solange sie denken können. Auch in den Kampfkünsten ist das rechte Maß immer wieder ein zentrales Thema: Ist der Arm zu gestreckt, kann man ihn leicht hebeln, ist er zu weit gebeugt, kann man ihn leicht blockieren. Steht man zu schmal, kann man leicht gefegt werden, steht man zu breit, bietet man zu viel Angriffsfläche. Auch im philosophischen Sinne gibt es Harmonie nur, wenn man die Extreme vermeidet. Die Liste der möglichen Beispiele wäre endlos…

Was ist zu viel? Was ist zu wenig? Und was ist genau richtig?

Das rechte Maß spielt auch bei der Gestaltung des Trainings hinsichtlich Umfang und Intensität eine bedeutende Rolle. Ob ein Training fachgerecht ist und Erfolge zeitigt, hängt wesentlich davon ab, dass die Belastung für den einzelnen Athleten richtig gestaltet wurde. Doch wann ist diese Konstellation „richtig“?

Ich habe mittlerweile als Sportler und als Trainer 35 Jahre Karate hinter mir – und ich war fleißig; Shotokan, Wado-Ryu, Shukokai, Uechi-Ryu, Kyokushinkai, Kyokushin-Budokai, Ashihara, Koshiki, Kudo, nebenher noch ein bisschen Boxen, Muay Thai, Systema, Judo, BJJ, Luta Livre, Arnis, Fechten, Bogenschießen… Man könnte sagen, ich habe eine grobe Vorstellung davon, was im Bereich Kampfsport so abgeht. 25 Jahre stand ich – mit wechselndem Erfolg – selbst aktiv auf der Kampffläche; regional, national und international habe ich von den Hochschulmeisterschaften bis zur Masterklasse alles durch. Und ich war immer daran interessiert, wie mein Körper auf die Belastung reagiert. Ich habe über Jahrzehnte jedes Training fein säuberlich dokumentiert.

Inzwischen bin ich in einem Alter, in dem man anfängt, sich von unnützem Ballast zu befreien. Bevor ich die ganzen Aufzeichnungen jedoch ins Altpapier gebe, habe ich nochmal einen Blick hinein geworfen. Was war die Essenz des Ganzen – sportwissenschaftlich betrachtet? So einen Haufen unterschiedlichster Daten statistisch auszuwerten, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Relativ einfach war es jedoch, persönliche Bestleistungen, z.B. im Krafttraining, mit Turniererfolgen in Bezug zu setzen. Da ich immer beides parallel gemacht habe, wäre zu erwarten gewesen, dass die Medaillen und Pokale geholt werden, wenn auch die Werte an der Hantel „stimmen“.

Die fünf Phasen der Hyperkompensation

Das klassische Modell der Hyperkompensation ist bekanntlich in fünf Phasen unterteilt:

  1. Ausgangszustand ist die Homöostase, die Systeme des Körpers befinden sich in einem Gleichgewicht, das zur Bewältigung der Alltagsbelastung ausreicht.
  2. Durch einen Trainingsreiz wird diese Homöostase gestört. Im Training kommt es zu Einbußen der Leistungsfähigkeit – wir werden müde. Der Körper registriert eine Überforderung.
  3. Der Körper ist bestrebt, die Homöostase wieder herzustellen. In der Erholungsphase nach dem Training erreicht der Körper zunächst wieder sein Ausgangsniveau, der Körper hat die Belastung verdaut.
  4. Der Körper versucht jedoch, sich vor einer erneuten Überforderung zu schützen. Im weiteren Verlauf kommt es daher zu einer überschießenden Wiederherstellung, d.h. wir werden fitter! Das passiert im Gegensatz zur gängigen Meinung aber nicht im Training, sondern in der Erholungsphase danach – ausreichend Schlaf und angemessene Ernährung vorausgesetzt.
  5. Diese im Sport erwünschten Anpassungen sind leider reversibel, d.h. wenn kein weiterer Trainingsreiz gesetzt wird, nimmt die Leistungsfähigkeit nach Erreichen des Maximums auch wieder ab.

Soweit, so gut. Leider taugt dieses Modell für die konkrete Trainingsplanung herzlich wenig. Es ist so gut wie unmöglich, den optimalen Zeitpunkt für die nächste Trainingseinheit zu ermitteln. Trainiert man zu früh, also noch in der ersten Phase der unvollständigen Erholung, wird man auf Dauer schwächer und rutscht ins Übertraining. Trainiert man zu spät, also nach dem Maximum der überschießenden Erholung, verpufft der Effekt und wir erreichen nichts.

Feste Trainingszeiten, heterogene Gruppen

Im modernen Karate ist zudem das Gruppentraining im Vereinssport die Regel. Dieser ist an feste Trainingszeiten gebunden. Also selbst wenn die Athleten wüssten, wann sie ihr individuelles Maximum der überschießenden Erholung und damit die besten Voraussetzungen für den nächsten Trainingsreiz erreicht haben, würde das wenig nutzen. Die lokale Fußballmannschaft und der Hallenwart würden vermutlich wenig Verständnis zeigen. Der Trainer muss also einen anderen Weg gehen. Er muss die Belastung so gestalten, dass die Regenerationsphase der Athleten zumindest näherungsweise den Vereinstrainingszeiten entspricht.

Ein weiteres Problem sind die meist heterogenen Gruppen, in denen das Karate-Training stattfindet. Leider herrscht im Karate ein Geist vor, der es für die Übenden für essentiell hält, sich der Kunst zu „unterwerfen“. Es gilt unter allen Umständen mit der Gruppe zu trainieren; man darf auf keinen Fall aufgeben, wenn man selbst schwächelt (Junioren im Erwachsenentraining, Mittelstufe in der Oberstufe, Kadertraining) und man darf auf keinen Fall zu hart mit seinem Partner umgehen, wenn das Niveau der Gruppe geringer als das der Leistungsträger ist (Heimtraining der Kaderathleten, Wettkampfmannschaft im „normalen“ Vereinstraining). Der Buddhist würde sagen, das Ego wird überwunden, man geht in der Gemeinschaft auf. Philosophisch betrachtet ist das für die Harmonie im Dojo sicher ein gutes Konzept. Für den Leistungssport ist das denkbar ungeeignet. Buddhisten gewinnen keine Turniere. Wer sein Potential voll ausschöpfen will, muss egoistischer trainieren.

Damit man mich nicht falsch versteht: der äußere (Sport) und der innere (Zen) Weg haben beide ihre Berechtigung und beide haben ihre Zeit. Die deutsche Sprache ist wunderbar präzise; in dem Wort „Kampfkunst“ kommt der Kampf vor der Kunst und vielleicht sollte man das auf seinem Weg auch so halten.

Wer kämpfen will, muss spezifisch trainieren. Ich habe dieses Problem mit meinem damaligen Trainingspartner so gelöst, dass wir uns abends im Gruppentraining das „Kime“ abgeholt haben und im Partnertraining aus Rücksicht auf die Breitensportler einen Gang runter geschaltet haben. Das kann man so machen, dass das Gegenüber das gar nicht merkt; man gibt sich selber ein Handicap und simuliert eine verletzte Extremität, wählt bewusst die weniger trainierte Auslage oder beschränkt sich auf bestimmte Techniken, die noch nicht wettkampfstabil sind. Die kämpferischen Inhalte haben wir dann vormittags im freien Training „erarbeitet“. Da ging es dann auch schon mal etwas gröber zur Sache… (Wenn keiner zuguckt!)

Heterochronismus der Wiederherstellung

Doch selbst wenn der Trainer einen Weg zu interner Differenzierung findet, bleibt es schwierig. Jedes Training spricht verschiedenen Funktionssysteme des Körpers an, die ungünstigerweise aber sehr unterschiedliche Zeitspannen zur Wiederherstellung beanspruchen – dies wird als „Heterochronismus der Wiederherstellung“ bezeichnet. In der Biomechanik geht man von unterschiedlichen Aufgabenklassen aus, die miteinander verwandt sind und ähnliche Anforderungen haben. Der Tsuki im Karate gehört zur Gruppe Absprung, Abdruck, Abwurf, Abstoß vom starren Widerlager (bei der Verwendung von Tatami in recht begrenztem Maße auch Abdruck vom elastischen Widerlager) mit dem Ziel minimaler Ausführungszeit. Die Leichtathletischen Wurfdisziplinen sind damit verwandt, haben jedoch das Ziel maximaler Endgeschwindigkeit.

Von den Werfern ist bekannt, dass sie in der Trainingsplanung Schwierigkeiten bei der optimalen Gestaltung ihres Krafttrainings haben, da sowohl Kraftbelastungen im Maximalbereich als auch maximal schnelle Bewegungen (Wurf) das Nervenkostüm erheblich belasten und sich die Erholungsphasen entsprechend verlängern. Und das schon zu einem Zeitpunkt, an dem die Muskulatur noch nicht ermüdet ist.

Zur Lösung dieses Problems analysierte der sowjetische Physiologe Lew Matwejew das Training und die Ergebnisse der Sowjetischen Olympiamannschaften 1952 und 1956 in den quantifizierbaren Sportarten Leichtathletik, Schwimmen und Gewichtheben. Ihn interessierte, welche Trainingspläne dazu geführt hatten, dass manche Sportler ihre besten Leistungen bei den Olympischen Spielen erbracht hatten und andere nicht. Hieraus wurden die Trainingspläne für die Olympischen Spiele 1960 entwickelt. Für biologische Systeme sind wellenförmige Prozesse typisch. Matwejew legte das Training daher sowohl langfristig (mehrjährige Trainingsplanung, in der Regel bis zur nächsten Olympiade) als auch im Jahreszyklus und bis in die einzelne Trainingswoche zyklisch an. Im Jahr wurden ein bis zwei Höhepunkte festgelegt; in der Regel die nationale Meisterschaft (als Qualifikation) und eine internationale Meisterschaft (EM oder WM). Natürlich gibt es weitere Turniere, schließlich ist Wettkampf das beste Training, aber das sind nur Aufbauwettkämpfe. Niemand kann die gesamte Saison über auf höchstem Niveau fit bleiben. (Kleine Anmerkung für die WADA: selbst Fußballer nicht!)

Umfang und Intensität verhalten sich dabei gegensätzlich: In der Vorbereitungsphase wird zunächst der Umfang erhöht und dann die Intensität. Vor den Wettkämpfen wird der Umfang dann zurückgefahren und die höchste Intensität erreicht.

Ergebnis- vs. verlaufsorientiert

Im Gegensatz zu einem ausschließlich ergebnisorientierten Wettbewerb im Kugelstoßen ist ein Karate-Wettkampf jedoch verlaufsorientiert. Im Shiai geht es nirgendwo um objektiv messbare Größen wie Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer in Reinform. Kräfte erkennt man bekanntlich an ihren Wirkungen. Wenn es aber keine Wirkung gibt, wo ist dann die Kraft? Da Trefferwirkung am Gegner verboten ist, entfalten die Techniken keine echte Wirkung. Es reicht, wenn sie gefährlich aussehen. Die „Leistung“ wird von Kampfrichtern subjektiv, dem Augenschein nach, „bewertet“. Sieger ist, wer am Ende die meisten Punkte hat, nicht wer am härtesten Schlagen kann. Natürlich ist es zum Pünktchen sammeln hilfreich, schnell zu sein. Und mit absoluter Sicherheit kann man davon ausgehen, dass jemand der regelmäßig Turniere gewinnt, zur Not auch so hauen kann, dass es weh tut. Aber im Shiai ist das schlicht und ergreifend nicht sein Job! Es wird immer Kämpfer geben, die wesentlich härter schlagen können – und trotzdem nie etwas gewinnen, z.B. weil sie wegen Kontakt disqualifiziert werden oder weil sie kein Gefühl für Timing und die richtige Distanz haben. Glaubt es mir, ich weiß wovon ich rede!

Sportartspezifische Intelligenz

Im Karate-Training kann es daher nicht nur um biologische Prozesse nach dem Hyperkompensationsprinzip im Sinne eines schneller, weiter, höher gehen, sondern auch um Prozesse des Lernens. Man benötigt also auch eine sportartspezifische Intelligenz. Diese entwickelt sich mit der Erfahrung. Kämpfen lernt man durch kämpfen. Deswegen können ältere Kämpfer körperlich überlegenen Youngsters auch dann noch gefährlich werden, wenn sie den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit bereits überschritten haben. Die „alten Hasen“ kämpfen nämlich bisweilen ökonomischer und taktisch schlicht cleverer. Und auch da könnte ich das ein oder andere Beispiel beisteuern…

Teil 2 lesen…

Text: Collin F. Kaemmer

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