Trainingslehre: Über die Schwierigkeit, das rechte Maß zu finden (Teil 2 von 2)

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Ein Trainer, der den Trainingsplan für die nächste Saison festlegt, muss sich also erst einmal klar werden, welche leistungslimitierenden Faktoren er im Einzelnen fördern will und wie er das zu tun gedenkt. So sollte er zum Beispiel sehr genau hinsehen, inwieweit die Kraftleistung z.B. im Bankdrücken, in der Kniebeuge oder beim Reißen überhaupt mit der Wettkampfleistung korreliert. Welche Trainingsziele sind überhaupt lohnend? Ich weiß aus eigener Anschauung nicht mehr, wie weit man im Karate in dieser Hinsicht heute ist.

In der Epoche zwischen Dirk Betzien (erster deutscher Karate-Weltmeister, WUKO-WM 1984 in Maastricht) und Marc Haubold (erster deutscher Karate-Weltmeister im Schwergewicht, WKF-WM 1998 in Rio de Janeiro) hatte man in Deutschland so gut wie keine ordentlichen Daten über die notwendigen körperlichen Voraussetzungen; die Trainer dachten lediglich, sie wüssten Bescheid. Im Judo, das ja bekanntlich bereits seit den Spielen von 1964 in Tokyo olympisch ist und dementsprechend im Hinblick auf die sportwissenschaftliche Betreuung gut ein halbes Jahrhundert Vorsprung vor dem Karate hat, sieht das ganz anders aus.

Judo: Konditionelle Vorgaben

Der Deutsche Judo Bund gibt seinen Aktiven ganz klare konditionelle Rahmenvorgaben. Für ein bestimmtes Alter, das Geschlecht, die Gewichtsklasse und das entsprechende Wettkampfniveau wird z.B. die Anzahl der Wiederholungen im Bankdrücken/Kniebeugen/Anreißen etc. mit einem bestimmten Prozentsatz des Körpergewichts genau vorgegeben. Zwar entscheidet auch hier in erster Linie der Wettkampferfolg, aber wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, ist bei der nächsten Kader-Maßnahme eben nicht dabei… Ähnlich ist es im Ausdauerbereich mit dem Multi-Stage Fitness Test („Beep-Test“) oder anderen Test-Verfahren.

Erfolgskiller Übertraining

In meinem persönlichen Training konnte ich feststellen, dass quantifizierbare Bestleistungen im Kraft- und Ausdauerbereich zeitlich manchmal mit Wettkampferfolgen zusammen fallen –und manchmal eben nicht. Ein Muster ist nicht erkennbar. Was jedoch augenscheinlich war, ist ein dramatischer Leistungsabfall nach mehrtägigen Trainingsmaßnahmen wie dem Sommerlager in Ravensburg oder dem Karate Bootcamp in England. Nach einer Woche Training mit drei bis fünf Trainingseinheiten am Tag befindet man sich gnadenlos im Übertraining. Es dauerte zum Teil Monate, im Krafttraining wieder auf das Niveau vor der Maßnahme zu kommen. Unter Umständen wäre ein Training in Blöcken mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Kondition, Technik, Taktik) der Periodisierung nach Matwejew überlegen. Seltsamerweise kam es im Zustand „körperlicher Degeneration“ auch schon mal zu Erfolgen.

Es könnte also sein, dass sich trotz körperlicher Ermüdung das richtige „Feeling“ eingestellt hat. Durch die hohen Wiederholungszahlen fühlt man sich auf der Matte mehr zu Hause – und hat vielleicht auch einfach nicht so „dumm“ gekämpft wie sonst. Paradoxerweise ist der Wettkampferfolg keine objektive Größe, mit der man die Qualität des Trainings messen könnte. Es wäre denkbar, dass man eine KDNW-Landesmeisterschaft in der Masterklasse mit einer grottenschlechten Leistung „gewonnen“ hat, weil an dem Tag zufällig schönes Wetter war und schlicht kaum jemand Lust hatte, den ganzen Tag in der Halle zu hängen. Genauso gut ist es möglich, bei den Dutch Open trotz einer hervorragenden Leistung in der ersten Runde gegen den amtierenden Europameister rausgeflogen zu sein. Medaille ohne Leistung, Niederlage trotz individueller Bestleistung. Im Karate ist beides möglich. Vom Losglück und bisweilen subjektiven Kampfrichterentscheidungen ganz zu schweigen.

Wettkampfanalyse und Hausaufgaben

Die vermutlich schwierigste Aufgabe für einen Trainer besteht darin, herauszufinden, welche Schwerpunktbildung für die von ihm betreuten Sportler sinnvoll ist. Dazu muss er seine Athleten individuell beobachten. Durch die Wettkampfanalyse müssen Stärken und Schwächen ermittelt werden. Nicht alles kann im Vereinstraining korrigiert werden. Hier bieten sich „Hausaufgaben“ an: Laufen, Krafttraining, ggf. beim Judo ordentlich Werfen und vor allem Fallen lernen, aber auch Regenerationsmaßnahmen wie Sauna oder Massage.

Das Bankdrücken ist eine klassische Kraftübung, die sicher auch im Karate ihre Berechtigung hat. Eine persönliche Bestleistung von 150 Kilogramm im Bankdrücken ist ein klarer Wert. Den kann man in Bezug zum Körpergewicht setzen und hat dann eine recht eindeutige Aussage über die Kraft der Armstrecker des Athleten. Ob eine Steigerung dieser Leistung zwangsläufig auch den Tsuki besser macht, ist damit nicht gesagt. Ob die Leistung auf der Bank überhaupt in Relation zum Wettkampferfolg steht, ist ebenfalls nicht geklärt. Das deutsche Kumite-Team der Männer hätte bei der WM 2016 in Linz vermutlich nicht besser abgeschnitten, wenn die Jungs einfach ein paar Kilo mehr auf der Bank geschoben hätten. Ganz im Gegenteil: Im Boxen kann man immer wieder beobachten, dass der Kämpfer mit dem schöneren Körper verliert. Vermutlich hat er den Fokus nicht auf das Kerngeschaft des Boxens, sondern auf die rein physische Vorbereitung gelegt.

Bestleistung auf den Tag genau

Trotzdem ist es das erklärte Ziel jeder Tainingsplanung, den Athleten am Wettkampftag in allen relevanten Bereichen (Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer und deren Mischformen, Strategie und Technik, mentale Einstellung etc.) Bestleistung zu ermöglichen. Damit sind wir beim schier unlösbaren Dilemma jedes Trainers: Wie bekomme ich meinen Schützling auf den Tag fit? Eigentlich ist das gar nicht zu leisten. Die optimale Relation von Belastung und Regeneration ist schlicht unbekannt. Selbst wenn man sich nur auf einen einzigen Parameter festlegen würde (was die Realität nicht annähernd ablichtet!), wäre es ganz und gar unmöglich herauszufinden, ob das Training nicht hart genug oder zu hart war bzw. ob die Regenerationsphase zu kurz oder zu lang war.

Klare Aussagen darüber, wie tief die Ermüdung des Athleten ist, sind schwierig. Man kann das subjektive Gefühl kaum objektivieren. Selbst ein ausgewachsenes Übertraining ist nur schwer sicher zu diagnostizieren, da es in ganz unterschiedlichen Formen, als basedowoides (auch sympathisches oder klassisches) und addisonoides (auch parasympathisches oder modernes) Übertraining auftritt. Es ist zudem auch keineswegs einheitlich, wie gut ein Athlet eine Belastung „wegstecken“ kann. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurden im Ostblock Trainingsformen entwickelt, bei denen ein gewisser „Ausschuss“ an Athleten von vornherein eingeplant war. Dazu gehörten neben den staatlichen Dopingprogrammen auch solch gelenkschonende Übungen wie Tiefsprünge mit der Jochhantel! War die Bandscheibe zu schwach, hatte der Sportler eben Pech. Nach dem Ende meiner aktiven Laufbahn machte ich zudem eine interessante Beobachtung: Die ehemaligen Wettkämpfer, die zur zweiten Garnitur gehörten, haben relativ gesehen mehr Probleme mit Sportschäden als die ehemaligen Spitzenkämpfer. Dazu gibt es meines Wissens noch keine wissenschaftlichen Erhebungen, aber es könnte sein, dass die genetische Disposition, hohe Belastungen gut verdauen zu können, eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere ist.

Je höher das Niveau, desto individueller das Training

Die Messung verschiedener Substrate, wie Harnstoff, Harnsäure und Ammoniak, Enzyme wie die Muskel-Kreatinkinase oder Hormone, im Speziellen das Verhältnis zwischen dem anabolen Hormon Testosteron und dem katabolen Kortisol, können zwar Hinweise für ein Übertraining liefern, aber die entsprechende Diagnostik steht nicht allen Athleten zur Verfügung. Die Planung des Trainings auf dem Reißbrett ist daher nicht möglich. Je höher das Niveau, desto individueller muss das Training gestaltet werden. Gefragt ist ein gutes Fingerspitzengefühl des Trainers dafür, was der Athlet in seiner jeweiligen Trainingsperiode braucht.

Das ist eigentlich eine Umkehrung dessen, was in den meisten Dojos passiert. Beim Heimtraining „dürfen“ die Wettkämpfer im Breitensport mitlaufen. Das ist ein Denkfehler. Ein Athlet in einer kompositorischen Individualsportart braucht auch ein im Hinblick auf Inhalte, Umfang und Inhalt individualisiertes und spezifisch auf den Wettkampf zugeschnittenes Training. Das Training ist für die Sportler da – nicht umgekehrt. Der japanische Ansatz, dass der Athlet klaglos alles durchzuhalten hat, was der Trainer sich so ausdenkt, ist absoluter Blödsinn. Im Shiai ist Kampfgeist sicher wichtig, aber entweder man ist eine „harte Sau“ oder eben nicht. Als solche geht Lazar Bošković sicher nicht durch. Er wurde eher als zurückhaltend, fast schüchtern wahrgenommen. Der Kampfstil diszipliniert, besonnen, kühl, berechnend und sehr ökonomisch. Fast ein bisschen langweilig. 2000 in München wurde er mit einem Waza-Ari Vorsprung trotzdem Weltmeister. Alles richtig gemacht! Und dass das kein Glück war, bewies er 2002 in Madrid, als er noch einmal Vize-Weltmeister wurde. Karate ist keine dumme Sportart, Härte allein hilft nicht!

Der „Spirit“ entscheidet

Karate ist eine Kampfkunst. Man muss auch physisch seine Grenzen suchen. Hartes Training gehört natürlich dazu! Und sind wir doch mal ehrlich: Entgegen jeder Sport-ohne-Tränen-Romantik tut so ein richtiges Schindertraining mit ordentlich Muskelkater danach auch mal richtig gut – vielleicht könnte der Körper darauf verzichten, aber der Kopf braucht es. Einfach nur, weil man es kann! Aber in der unmittelbaren Turniervorbereitung ist das wenig sinnvoll. Wettkämpfer sind keine Panzer, ich würde sie eher mit Formel-1-Rennwagen vergleichen.

There are no secrets in Karate. If two fighters can both kick and punch the same, what is the difference between them which enables one fighter to be better than the other? What‘s in their hearts and minds!

Wayne Otto

Die physische Komponente ist zudem nur ein Teil der Wettkampfleistung. Ein guter Coach schafft es, den „Spirit“ seiner Kämpfer anzusprechen. Wer schon einmal trotz Verletzung als Schlusskämpfer für seine Mannschaft gekämpft hat, weiß, welche Qualität ich meine. Körperliche Fitness ist eine Voraussetzung, um überhaupt kämpfen zu können – über Sieg und Niederlage entscheiden andere Faktoren. Dr. Wayne Otto, MBE, mit neun Goldmedaillen bei WUKO- und WKF-Meisterschaften, World-Cups und World-Games laut karaterec.com immerhin unter den zehn besten Kämpfern aller Zeiten, sagte: „There are no secrets in Karate. If two fighters can both kick and punch the same, what is the difference between them which enables one fighter to be better than the other? What‘s in their hearts and minds!“ Und das erreicht man eben nur sehr begrenzt dadurch, dass man in jedem Training versucht, konditionell ein bisschen besser zu werden.

Das mögen wir Holländer nicht so.

Rob Zwartjes

Rob Zwartjes wird den Aktiven unserer Tage wegen seiner ungeheuer angenehmen, einfühlsamen Art Training zu geben im Gedächtnis bleiben. Was die meisten nicht wissen: Der ehemalige Mathematiklehrer war der Coach der niederländischen Nationalmannschaft, die 1977 in Tokyo im Einzel (noch ohne Gewichtsklassen) und in der Mannschaft Gold nach Hause holen konnte. Damals bestand das Training in Deutschland noch aus fast militärischem Drill. Man wollte japanischer als die Japaner sein. Ich wollte von Rob wissen, ob er 1977 dem Team gegenüber nicht auch autoritärer aufgetreten sei. Er lächelte nur und sagte: „Das mögen wir Holländer nicht so.“

Der gute Karate-Trainer

Was Karate als Sportart so spannend macht, ist die Vielschichtigkeit. So wie ein Wettkämpfer eine solide konditionelle Basis braucht, so braucht ein Trainer solides sportwissenschaftliches Grundlagenwissen. Darüber hinaus bedarf es aber auch eines guten Gefühl für die Athleten. Er muss wissen, was sie benötigen. Der abgehobene „Sensei“, der sich aufgrund seiner Stellung beweihräuchern lässt, ist so überflüssig wie ein Kropf. Ein guter Trainer begreift sein Wirken als dienende Funktion, für persönliche Eitelkeiten ist da kein Platz. Er ist Fachmann bei der Erstellung, Durchführung, Überwachung und Auswertung des Trainings. Um Erfolg zu haben, braucht er die aktive Mithilfe des mündigen Athleten. Dieser ist bereit, sich zu quälen. Er wird aber nicht gegen die eigenen Instinkte arbeiten. Vielleicht versöhnt sich an diesem Punkt die Tradition mit dem Sport. Die alten Meister hatten auch nur wenige Schüler und das Verhältnis war sehr persönlich, fast familiär. Demgegenüber ist die militärische Gruppengymnastik ein recht neues Phänomen.

Das Zentrum ist der Kampf

Für die konditionelle Arbeit kann ich nur dazu anregen, öfters mal etwas Neues auszuprobieren. Wir haben schon vor 30 Jahren nicht nur Pratzen, Sandsack und Makiwara verwendet, sondern auch mit Plyometrie (Sprints und Sprünge), Gummibändern, Medizinbällen und dergleichen experimentiert. Das funktionelle Krafttraining unserer Tage kann wertvolle Ideen liefern. Immer ist jedoch darauf zu achten, dass man den Fokus nicht aus dem Auge verliert: Das Zentrum ist der Kampf. Und der wird von Menschen bestritten, die höchst unterschiedlich sind. Der ehemalige Ringer im griechisch-römischen Stil und Trainer der Boxlegenden John L. Sullivan und Jack Dampsey, „Professor“ William Muldoon erkannte schon Ende des 19. Jahrhunderts: „Es gibt keine festen Regeln für das Training, es kann keine geben, denn ein für einen Mann geeignetes Training würde einen anderen zugrunde richten. Die Individualitäten und ihre körperlichen Bedürfnisse sind so verschieden wie die Jahreszeiten.“

Es gibt keine festen Regeln für das Training, es kann keine geben, denn ein für einen Mann geeignetes Training würde einen anderen zugrunde richten. Die Individualitäten und ihre körperlichen Bedürfnisse sind so verschieden wie die Jahreszeiten.

Jack Dampsey

Text: Collin F. Kaemmer

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(ema)

Die nächsten Termine:

april

20apr(apr 20)9:0021(apr 21)14:30AusgebuchtTrainer:innen- C – Ausbildung, Breitensport - Teil 2Hachen, Sportschule

20apr11:0013:00AbgesagtABGESAGT: Stilrichtungslehrgang ShotokanBudokan Bochum e. V.

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28apr10:0018:00Landesmeisterschaft Jugend, Junior:innen, u21Oberhausen, Willi Jürissen Halle

mai

04mai10:0022:00Cologne OpenKöln, Gesamtschule Stresemannstraße

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