Als wir uns im Rahmen der Mitmach-Aktion 2015 kennenlernten – euer Verein hatte damals eine Reportage gewonnen –, trugst du den blauen Gürtel. Nun darf ich dir zum 1. Dan gratulieren, Manuela! Den Schwarzgurt zu erlangen, ist für jeden Karateka etwas Besonderes. Wie hast du das erlebt?
Vielen Dank. Offen gestanden, wollte ich mich vor diesen Prüfung drücken. Ab dem Braungurt setzte ich mich bewusster mit Karate auseinander und spürte auch immer mehr meine Grenzen. Also bin ich etwas unsicher und ziemlich demütig zur Prüfung angerollt. Erst so langsam kommt das gute Gefühl. Das Schönste für mich ist, wie sehr mein Sensei und der ganze Verein hinter mir stehen. Für mich ist der 1. Dan jetzt Motivation pur, mich im Rahmen meiner Möglichkeiten weiter mit Karate auseinanderzusetzen. Denn es gibt noch viel zu lernen!
Wie ist die Prüfung abgelaufen? Wie unterschied sich dein Programm von dem der Karateka ohne Behinderung?
Krankheitsbedingt muss ich bei steigendem Stress etwas aufpassen, weil mein gesamtes Nervensystem nicht so kontrollierbar ist. Eine Prüfung verlangt einem ja einiges ab. Auch brauche ich oft länger, um Aufgaben umzusetzen. Auf all das wurde Rücksicht genommen. Meine Prüfung wurde etwas später am Tag angesetzt, damit ich genügend Zeit hatte, mich in der Halle darauf einzustellen. Meine Katas waren Kanku Dai und Jion, im Ablauf auf die Rollstuhltauglichkeit abgestimmt. Leider kenne ich keinen anderen Karateka im Rollstuhl persönlich und so ist das für mich und uns gewissermaßen „Pionierarbeit“. Natürlich wurden auch Bunkai und Selbstverteidigung geprüft. Um den Corona-Schutzauflagen gerecht zu werden, blieb mein Trainer Willi mein einziger Partner. Und klar – die Fußtechniken kann ich nicht umsetzen. Aber mit vier Rollstuhlrädern und der kleinen Fußablage kann man auch schon einiges bewirken. Im Training muss ich aufpassen, keinem über die Füße zu fahren.
Wie hast du dich auf die Prüfung vorbereitet?
Innerlich bereite ich mich vor seit der Prüfung zum 1. Kyu Ende Mai 2019. Obwohl ich viele Gegenargumente fand, haben wir im Januar 2020 ein intensives praxisorientiertes Programm bis zu unserem Lehrgang im Oktober geplant. Dann kam Corona und der erste Lockdown machte uns für Monate einen dicken Strich durch die Rechnung. Natürlich habe ich versucht, diese Zeit zu nutzen. Kihon geht immer und überall, selbst im Aufzug! Und meine Wohnung habe ich mir so eingerichtet, dass ich zumindest die Heian Katas an einem Stück machen kann. Für die höheren Katas ist es zwar eng, aber die übe ich in Sequenzen. Oder ich trainiere auf der Terrasse des alten Mutterhauses der Franziskanerinnen. Das hat eine ganz besondere meditative Atmosphäre, die ich sehr mag. Erst ab Juli 2020 gab es für mich (wegen der Auflagen für Pflegeeinrichtungen) erste Lockerungen und ich konnte wenigstens eins-zu-eins und auf Abstand mit Willi trainieren. So blieb der Schwerpunkt zunächst auf Kihon und Kata. Trotzdem habe ich im Frühjahrs-Lockdown Kondition eingebüßt. Auf Dauer braucht es einfach ein Gegenüber. Als absehbar wurde, dass die Prüfung stattfinden kann, haben wir uns im Bereich Kumite, SV und Bunkai rangehalten.
2015 hast du gesagt: „Karate hat mich in der Seele gepackt.“ Was bedeutet dir Karate heute?
Inzwischen bin ich regelrecht besessen! Ernsthaft! Funakoshis Regeln haben sich als Leitlinien auch für meinen Alltag bewährt. Karate ist wirklich zur lebenslangen Aufgabe geworden und ich freue mich auf die weiteren Entwicklungen. Mein Leben hat sich in den letzten zehn Jahren nur zum Positiven verändert. Karate macht mich souveräner darin, Probleme zu lösen und nicht eher aufzugeben.
Welche Rolle spielt Willi Mischke auf deinem Karate-Weg?
Unbestreitbar die Hauptrolle! Er war von Anfang an die motivierende Kraft und hat erkannt, dass in mir immer noch eine Kämpferin schlummerte. Vor zehn Jahren war nicht die beste Phase meines Lebens: Durch die Erkrankung wurde ich relativ früh berentet, war etwas therapiemüde geworden und hatte enorme psychosoziale Schwierigkeiten entwickelt. Kontakt mit anderen Menschen mied ich und verließ meine Wohnung nur noch, wenn es unbedingt sein musste. Durch einen Selbstverteidigungskurs unter Willis Leitung bei mir im Haus wurde dann alles anders. Obwohl ich vor Aufregung völlig ataktisch und mit starken Dystonien dort anrollte und kein verständliches Wort herausbrachte, wurde ich von Willi, der auch als Therapeut agierte, wohlwollend aufgenommen – so als seien die Symptome kein Ausschlusskriterium. Von Anfang an erfuhr ich Respekt und Achtsamkeit – leider selten für mich. Nach Kursende bekam ich Einzeltraining und dieser geschützte Rahmen bot optimale Lern- und Trainingsbedingungen für mich. Mein Selbstbewusstsein wuchs. Meine Anfänge hatten also einen rein therapeutischen Charakter. Durch das akribische Üben der wiederkehrenden Bewegungsabläufe erlangte ich zunehmend Kontrolle über die Ataxie. Das wurde mein größte Trainingsantrieb. Willi forderte mich schließlich zur Gelbgurtprüfung im Shotokan heraus. Damit verbunden war die kontinuierliche Teilnahme am ganz normalen Karate.-Training und eine Vereinsmitgliedschaft. Den geschützten Rahmen zu verlassen, fiel mir nicht leicht. Als ich aber zum ersten Mal beim Training von der Karate-Abteilung TCG 1874 dabei sein und die Kihon-Bahnen mitrollen durfte, hatte das eine so nachhaltige Wirkung auf mich, dass ich mich auf Anhieb wohl fühlte. So begann unser gemeinsamer Do, eine besondere Freundschaft und mein neues Leben.
Du leidest an spastischer Spinalparalyse mit kompliziertem Verlauf, insbesondere Ataxie – was bedeutet das, vereinfacht erklärt?
Die spastischen Spinalparalysen gehören zu den seltenen genetisch bedingten Erkrankungen, die, je nach Art und Verlauf, zum stetigen Verlust von motorischen und kognitiven Fähigkeiten führen können. Auch das Sprechen, Sehen und Hören sind beeinträchtigt. Bei mir wurde Ende 2017 die genetisch gesicherte Ursache gefunden. Meine Form von Spinalparalyse gehört zu den Leukodystrophien. Man muss sich mein Gehirn und das Rückenmark voll schlecht isolierter Kabel vorstellen – dann versteht man, dass die Impulse vom Gehirn manchmal flüssig, manchmal gar nicht oder verlangsamt und abgehackt meine Bewegungsabläufe beeinflussen. Bei zu vielen ausgesendeten Impulsen funkt so manches durcheinander. Das sorgt dann u.a. für die Ataxie. Diese ist ein Symptom von vielen dieser komplexen Erkrankung. Für mein Gefühl das schwierigste, denn ich kann bzw. konnte nur noch schwer zielgerichtete und koordinierte Bewegungen ausführen. Der begleitende Tremor (Zittern) erschwert auch einiges. Eine Kaffeetasse greifen und halten ohne zu kleckern, das war mir vor zehn Jahren gar nicht mehr möglich. Die Konzentration auf Kihon und Kata, das ganzheitliche Training hat mir enorm geholfen, mehr Kontrolle zu bekommen. Anscheinend haben sich durch die immer gleichen Bewegungsabläufe nicht nur neue funktionierende „Leitungen“ gebildet. Ich denke auch, was in Bewegung bleibt, wird flüssiger. Gerade bei einer Erkrankung, bei der die schützende Isolierung um die Nervenbahnen abnimmt, gehört der Kampfsport mit seinen Wiederholungen zu den besten Therapieoptionen.
2015 hast du mir berichtet, der Krankheitsverlauf sei zu einem Stopp gekommen, zumindest in deiner oberen Körperhälfte. Wie ist es dir seither ergangen, wie geht es dir heute?
Ok, ganz stoppen kann ich den neurodegenerativen Prozess nicht. Leider musste ich deswegen das Training in der Halle etwas reduzieren, weil es manchmal zu anstrengend wurde. Ich bin eben keine 20 mehr, sondern 51 – da bekommt wohl jeder so langsam Schwachstellen. Bis jetzt gelingt es mir jedoch, mir eine enorme körperliche und auch kognitive Stabilität zu erhalten, die sich auch auf die Alltagsbewältigung auswirkt. Ich brauche zwar mehr Regenerationszeit, aber ansonsten spüre ich keine krankheitsbedingten Einschränkungen. Es ist ein verdammt gutes Gefühl, allen Prognosen zum Trotz selbstständiger geworden zu sein. Ich muss mich meinem größten Gegner, der fortschreitende Erkrankung, nicht mehr kampflos ergeben. Ich denke nicht ans Gewinnen in Form von Heilung, aber daran, den gegenwärtigen gesundheitlichen Stand zu halten.
Du trainierst nach wie vor beim TCG Gelsenkirchen inklusiv Karate. Sind in der Zwischenzeit weitere Karateka mit Behinderung dazu gestoßen?
Leider nicht. Wohl auch, weil unsere Halle nicht barrierefrei ist und es für Leute im Rolli keine nutzbaren sanitären Einrichtungen gibt. Daher kann man das bei uns zumindest für Rollstuhlfahrer*innen nur beschränkt anbieten. Es braucht halt noch viele Kompromisse im Sinne der Inklusion.
Hast du vielleicht einen Tipp für Menschen mit Handicap, die Karate erlernen möchten und auch für Vereine, die solche Interessenten haben?
Mir ist im Karate überall große Offenheit und Hilfsbereitschaft begegnet. Mit einem gesunden Inklusionsgedanken und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten kann ein gemeinsames Training gut funktionieren. Noch ist nicht jedes Dojo barrierefrei. Oft fehlt es an rollstuhltauglichen Toiletten. Dazu ist die Bandbreite an Behinderungen bzw. Handicaps so vielfältig, da merkt man erst im Laufe der Zeit, was möglich ist. Ich möchte ein beherztes Ausprobieren vorschlagen! Vorab in den Kontakt gehen, das ist immer sehr wichtig. Wer, wie ich, mit einem SV-Training innerhalb der Einrichtung anfangen möchte, muss entsprechende Angebote suchen und wird bei den größeren Trägern fündig.
Wie erlebst du die Corona-Pandemie und insbesondere den Lockdown? Kannst du trotzdem Karate trainieren?
Im Gegensatz zum ersten Lookdown kann ich diesmal zumindest beim Träger wieder mit Willi einmal wöchentlich trainieren, natürlich auf Abstand. Hoffen wir, dass diese Zeit für uns alle bald ein Ende nimmt, es belastet schon sehr auf vielen verschiedenen Ebenen.
Welches sind deine nächsten Ziele?
Nun geht’s erst richtig los! Ich beschäftige mich noch weiter mit der Bunkai aller bisheriger Katas, lerne neue Katas. Das gesundheitsorientierte Training bleibt bei mir an oberster Stelle.
Möchtest du noch etwas sagen?
Fight your Limits! Das steht auf der Pratze, die mir Pati und Olaf zum Schwarzgurt geschenkt haben, und es beschreibt meinen Karate-Do am Besten. Denn keine Zeit des Lernens verläuft ohne Phasen der Ermüdung, Selbstzweifel und Resignation. Aber die gilt es zu überwinden, Eigenverantwortung zu erkennen und nicht aufzugeben, wenn es schwierig wird. Zum Schluss möchte ich Willi, der gesamtem Karate-Abteilung des TCG sowie Birgit danken. Ohne euer Engagement wäre so vieles für mich nicht machbar gewesen!
Danke für das Interview und alles Gute für dich!
Interview: Eva Mona Altmann
Das Interview fand digital statt.
Fotos: Karate-Abteilung TCG 1874
(ema)