Erfahrene Karateka sollten sich mit dem Baihequan befassen, dem White Crane Kung Fu. Nicht irgendwann, nicht bald, nicht in fünf Jahren, sondern jetzt. Das ist die Erkenntnis einer Gruppe des Karate Gronau e.V., die im September 2012 bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres in die südchinesische Provinz Fujian nach Yongchun gereist ist, um in der Schule des Meisters Pan Cheng Miao ihr White Crane Kung Fu zu vertiefen. Diese zweite Reise war lehrreich wie die erste; die wachsende Vertrautheit mit Land und Leuten resultierte aber auch in langen Gesprächen und neuen Perspektiven. Warum ihrer Meinung nach die Zeit davonläuft, bedarf einiger Erläuterungen.
Seit Mitte 2010 ist das Wirtschaftswachstum in China rückläufig. Investitionen des Staates machen über 50% des Wirtschaftswachstums aus (Quelle: WDR 5). Die chinesische Regierung beginnt zu erkennen, dass die Wirtschaft des Landes vom Export abhängt, denn: es gibt keine ausreichende Kaufkraft der Bevölkerung. Der chinesische Staat ist unerhört reich, das Volk ist weit davon entfernt. Welche Bedeutung hat das für das Kung Fu und, weiter gedacht, für uns als Karateka?
Denken wir etwa 150 Jahre zurück. Die Kampfkunst kommt auf Okinawa an. Die Reisenden haben einige Monate oder sogar Jahre gelernt, und nun werden sie in ihrer Heimat die Prinzipien der Kampfkunst an andere weitergeben. Sie unterrichten junge Männer. Das Kung Fu erweist sich als schwierige Aufgabe, für den Schüler wie für den Lehrer. Sie zerlegen die komplexen Formen in leichter erlernbare Teile. Verschiedene Meister lehren die Techniken unterschiedlich, jeder entwickelt seine Vorlieben. Das Erlernen der Kunst war auf lange Zeit angelegt, also zeigte man nicht zu viel auf einmal. 80 Jahre später gab es schon eine große Menge verschiedener Schulen. Selbst nach China zu reisen wäre beschwerlich gewesen, reich hätte man auch sein müssen, wozu sollte das gut sein? Gab es Konkurrenz zwischen den neuen Meistern, den Nachfolgern derjenigen, die einst in China gelernt hatten? Darüber können wir nur spekulieren.
Vorsicht, persönliche Vorlieben, Vergessen – die Gründe für Veränderungen an Techniken, Abläufen und Prinzipien sind vielfältig und wahrscheinlich wirkten viele gleichzeitig. Übrig bleibt, dass Jahrzehnte später die Ursprünge verwischt waren. Die alten Meister, die hätten klären können. standen nicht mehr zur Verfügung. Der Rest der Geschichte ist jedem Karateka hinlänglich bekannt. Jeder hat mehr oder weniger schmerzlich erfahren, dass es hinsichtlich der Techniken Ungereimtheiten gibt und Diskussionsbedarf. Wer sich lange mit dem Karate beschäftigt hat weiß, wie mühsam er sich die Anwendungen von so mancher Technik herleiten musste. Es blieben Lücken. Sich mit dem Ursprung des Karate, dem White Crane Kung Fu oder Yongchun Baihequan zu befassen ist eine (heute) durchaus zugängliche Weise, diese Lücken zu füllen.
Das Baihequan verfügt über 400 Jahre dokumentierter Geschichte, und die Techniken sind sehr ursprünglich geblieben. Man findet in den Kata (Tao Lu) viele bekannte Techniken: die meisten Tao Lu z.B. beginnen mit der ersten Technik aus Sepai (Hand der Göttin Guanyin), Morote Keito Uke Ippon Nukite aus Unsu finden wir als “Die großen vier (d.h. die Elemente) versinken in der Mitte” – in einem fort erkennt man Techniken, wobei die Anwendung etwas anders gezeigt werden. Was, wenn ein erfahrener Karateka in China weiter forschen möchte?
Der erste Schritt, den ein neugieriger Mensch heute wählt, um Informationen über eine Sache einzuholen, die ihn interessiert, führt meist ins Internet. Was er sehen wird, ist Folgendes: White Crane Kung Fu gibt es in vielen Variationen. Wer sich im Internet auf die Suche macht, wird kaum in der Lage sein das, was er sieht, qualitativ, regional, historisch oder sonst wie einzuordnen. So stößt man z. B. auf essende, singende, flatternde usw. Kraniche, Abkömmlinge des Weißen Kranichs aus Yongchun – und viele mehr. Vielleicht hat der eine oder andere auch schon praktische Erfahrungen gesammelt, denn man kann ja durchaus Lehrgänge finden, und möchte nun selbst nach China reisen. Was wird ein Karateka vorfinden, der sich auf den Weg nach Yongchun macht?
Yongchun ist eine für chinesische Verhältnisse kleine Stadt mit rund 500.000 Einwohnern. Wer studieren möchte, kann hier nicht bleiben. Es ist so ein Ort, an dem der Reichtum Chinas erst ganz langsam ankommt. Es gibt eine Autobahn, es wird ein neues Krankenhaus gebaut. Aber die Menschen arbeiten immer noch 365 Tage im Jahr für ihren Lebensunterhalt und so luxuriöse Dinge wie ein Moped. Krankenversicherung? Fehlanzeige. Arbeitslosenversicherung? Was soll das sein? Es existieren keinerlei Sozialsysteme. Viele Menschen benötigen zusätzliche Mittel schon für ihren Lebensunterhalt; auch bescheidener Luxus ist ohne kaum denkbar. Woher nehmen an einem Ort, der für Touristen und Einheimische gleichermaßen wenig zu bieten hat?
Die Stadt Yongchun hat zum Glück mittlerweile erkannt, dass sie mit dem Baihequan über etwas verfügt, das für Menschen im Ausland von Bedeutung sein kann, und darum erfährt das Kung Fu jetzt Unterstützung durch die örtliche Politik. Es wurde ein schönes Museum gebaut, in dem Raum ist für Vorführungen, bei denen in regelmäßigen Abständen die Clubs der Stadt Interessierten ihre Kunst vorführen. Das Baihequan ist jetzt das Aushängeschild Yongchuns, und es erfährt die Förderung, die einer so alten und ehrwürdigen Kunst zusteht.
Die Clubs der Stadt werden immer mehr, denn das ist politisch gewollt. Die organisatorischen Strukturen entsprechen dabei nicht den deutschen Standards, mit Bedacht gesprochen. Es gibt einfach keine etablierten Systeme, die Qualitätssicherung betreiben würden. Es gibt keine systematisierte Lehre, kein verlässliches Prüfungssystem. Voraussetzungen für die Gründung eines Clubs gibt es ebenfalls nicht. Es wird eine Weile dauern, bis derlei aufgebaut ist. An diesem Punkt haben wir, hat Europa dem Baihequan viel zu geben. Was geschieht inzwischen mit der Kampfkunst?
Es gibt in Yongchun viele Menschen, die Baihequan gelernt haben. Sie haben oft jahrelang gelernt, und nun möchten auch sie die Kampfkunst an andere weitergeben – und die Stadt unterstützt sie in ihrem Vorhaben. Sie nehmen Schüler auf. Sie unterrichten junge Männer. Das Kung Fu erweist sich als schwierige Aufgabe, für den Schüler wie für den Lehrer. Sie zerlegen die komplexen Formen in leichter erlernbare Teile. Verschiedene Meister lehren verschiedene Techniken, jeder entwickelt seine persönlichen Eigenheiten…Und gibt es Konkurrenz zwischen den Meistern? Davon können wir ausgehen, denn der Ort ist klein, die Interessenten, die ihn besuchen, wenige.
Das alles liest sich nicht nur wie oben schon beschrieben; wer in dieser Zeit nach Yongchun reist, kommt an zwei Gefühlen nicht vorbei: zunächst, dass sich manches, was hier geschieht, auf Okinawa so oder so ähnlich zugetragen haben muss. Und dann, dass die Entwicklung des Baihequan weg von seinem Ursprung in der heutigen Zeit viel, viel schneller geschehen wird. Man kann sich nur zu leicht vorstellen, dass man schon in 15, 20 Jahren hier einen Zustand vorfinden wird, in dem man so manche Technik nicht mehr verstehen wird. In dem das Baihequan mit dem Fokus auf Schönheit turniertauglich getrimmt wurde. In dem es Lehrende gibt, die nur eingeschränkt in der Lage sind, z.B. eine Anwendung zu erklären – geschweige denn zu lehren. Und man bekommt das dringende Gefühl, keine Zeit zu haben. Nach 400 Jahren scheint dem Baihequan die Zeit davon zu rennen.
Die Zeit, sich dieser Kunst zuzuwenden, ist jetzt. Das Baihequan ist der Ursprung und tragender Grund unserer eigenen Kunst und es verdient unsere Aufmerksamkeit – heute. Und es ist Zeit für diejenigen, die viele Jahre mit dem Studium und Erlernen des Karate – gleich welchen Stils – verbracht haben, ihrer Arbeit etwas hinzuzufügen, das, wenn man einmal hinein taucht, die Arbeit in der Vergangenheit vervollständigt und ihr das Sahnehäubchen aufsetzt.
Text und Foto: Haki Cellikol, Karate Gronau